Subject: Tod Josef Anton Riedl
From: Hirsch Michael
Josef Anton Riedl
(11.6.1927-25.3.2016)
Über das Geburtsjahr Josef Anton Riedls herrschte lange Zeit Verwirrung.
In Lexika und Lebensläufen wurde meist 1929 angegeben, wahrscheinlicher
aber ist das Geburtsdatum, das nun auch auf den Todesanzeigen steht:
11.Juni 1927. So starb „Joe“ also 88-jährig am Karfreitag 2016 in seiner
Geburtsstadt Murnau.
Als Komponist war Josef Anton Riedl durch und durch Autodidakt. Obwohl
er als Kind und Jugendlicher Klavier spielte und auf der Orgel
improvisierte, sowie später Schlagzeug studierte, beschrieb er 1984 in
einem Gespräch mit Reinhard Oehlschlägel als prägende musikalische
Früherfahrung, wie er schon als Kind „das rhythmisch-dynamische
Nacheinander von verschiedenen Geräuschen“ beobachtete, „die
Windströmungen durch Bewegen von losen Teilen am alleinstehenden Haus
verursachten“, sowie „das rhythmisch-dynamische Knistern und Knacken,
das durch Dehnen und Zusammenziehen von Holz, Metall,
Temperaturunterschiede etc.“ erzeugt wurde. Das dazu passende
professionelle Schlüsselerlebnis war dann 1951 die Begegnung mit der
Musik Pierre Schaeffers in Aix-en-Provence. Spätestens von hier an
entwickelte Riedl vollkommen unabhängig vom Avantgarde-mainstream
Darmstädter oder Kölner Provenienz und auch von den französischen
Nachfolgern Schaeffers geradezu eigenbrötlerisch eine unverwechselbare
Klangsprache, in der sich die Erfahrung der musique concrète nicht nur
in Tonbandstücken realisierte, sondern auch auf seinen Umgang mit
instrumentalen und vokalen Klängen abfärbte.
Schon früh begann Riedl mit dem Tonband zu experimentieren. In gewisser
Weise könnte man den Tonbandschnitt als ein Modell für sein Komponieren
insgesamt bezeichnen. So verwendete er als Vokalmusik fast
ausschließlich abstrakte, gesprochene Sprachklänge („Lautgedichte“), für
die er die Techniken des Zerschneidens und neu Zusammenklebens von
Worten, Silben und Lauten vom Tonbandschnitt übernahm. In der Tat sind
auch Riedls Sprachmusiken eine Art vokaler „musique concrète“. Die Laute
der gesprochene Sprache repräsentierten für ihn als stimmliches
Alltags-Material nur einen speziellen Ausschnitt aus dem Reservoir
konkreter Känge, wie auch z.B. die diversen Papiersorten in seiner
„Paper-Music“ oder die mikrophonierte Schultafel in
„Zeichnen-Klatschen/Zeichnen-Zeichnen“. Und letztlich behandelte Riedl
sogar das traditionelle Instrumentium nur wie einen Sonderfall im
Arsenal der Klänge. Wenn er etwa in seinen späten Kammermusiken
gelegentlich wieder auf das Klavier zurückgriff, so war auch dort
jegliche Erinnerung an den klassisch-romantischen Ballast dieses
Instruments durch die Unerbittlichkeit der kompositorischen Faktur
ausgetrieben, obwohl er auf jegliche erweiterte Spieltechniken (etwa im
Inneren des Flügels) verzichtete.
Ohne Zweifel war Josef Anton Riedl einer der bedeutendsten Pioniere
sowohl der elektroakustischen Musik als auch der interdisziplinären
Medienkunst. In den 50er Jahren experimentierte er bereits in Hermann
Scherchens Gravesaner Studio mit einer Lochkarten-steuerung als Vorform
der Computermusik. 1959 gründete er – interessanterweise mit
tatkräftiger Unterstützung durch Carl Orff – das legendäre
Siemens-Studio für elektronische Musik, das heute im „Deutschen Museum“
in München ausgestellt ist. Dort realisierte er nicht nur eigene Stücke,
sondern bot auch Kollegen wie Mauricio Kagel, Henri Pousseur, Dieter
Schnebel und Herbert Brün Produktionsmöglichkeiten. Parallel dazu begann
die multimediale Zusammenarbeit mit Filmemachern wie Edgar Reitz, die
keineswegs traditionelle Filmmusik sondern autonome audiovisuelle
Kunstwerke hervorbrachte. So etwa das großangelegte
Film-Environment-Projekt „VariaVision – Unendliche Fahrt“ aus dem Jahr
1965. Die Komposition „Geschwindigkeit“ (1963) von Reitz und Riedl ist
glücklicherweise noch so gut dokumentiert, dass sie auch heute
gelegentlich aufgeführt werden kann. In der Folgezeit entwickelte Riedl
immer umfassendere Multimedia-Projekte, er bespielte Foyers, Innenhöfe
und ganze Parkanlagen.
In seinen späteren Jahren wandte sich Riedls kompositorische Arbeit
wieder knapperen kammermusikalischen Formen von äußerst konziser
Elaboriertheit zu.
Grundsätzlich entzieht sich sein Oeuvre jeglicher Einordnung in
klassische Genres. Da hilft es eher, wenn man statt von Genres und
Gattungen von Materialbereichen spricht, in denen sich Riedls Arbeit
bewegt, die sich allerdings auf vielfache Weise gegenseitig durchdringen
können. Zu diesen Materialbereichen gehören insbesondere musique
concrète, elektronische Musik, Sprachlaute, Materialklänge (Papier,
Metall, Glas, Wasser), Schlagzeug, eine verhältnismäßig geringe Auswahl
traditioneller Instrumente, sowie visuelle Medien (Film, Dia, Video).
Eine gesprochene Silbe hat für ihn die gleiche Wertigkeit und das
gleiche Ausdruckspotential wie ein Klavierakkord, das Zusammenschlagen
von Pappröhren, ein Trommelschlag oder ein konkretes Geräusch vom
Tonband, und so können alle diese Elemente jederzeit miteinander
interagieren. Sie sprechen gewissermaßen die gleiche Sprache. Diese
Sprache ist gekennzeichnet von jenem unverwechselbaren Riedlschen
Gestus, einer fast zwanghaften Unerbittlichkeit, einer zerfahrenen
Nervosität, einer anarchischen Virtuosität, sowie einer merkwürdig
abstrakten Expressivität, die gelegentlich auch durch die bewusste
Überforderung der Interpreten, etwa durch unspielbare Notationen
gefördert wurde.
Eine Würdigung Riedls darf nun freilich seine überragende Bedeutung als
Konzertveranstalter nicht auslassen. Schon in den 50er Jahren begann er
im Rahmen der Jeunesses Musicales Konzerte und Workshops zu
organisieren. Vor allem aber seine ein halbes Jahrhundert lang
ununterbrochen existierende Reihe „Neue Musik München“ (in den letzten
Jahrzehnten und dem Label „Klangaktionen“) war beispiellos in der Fülle
des dort aufgeführten Spektrums zeitgenössischen Komponierens und von
allergrößter Bedeutung für so manche Komponisten-Karriere. Dazu kamen
Reihen für außereuropäische Musik und Jazz, sowie die jahrelange
Programmgestaltung für das Kulturforum in Bonn und seine Tätigkeit als
Programmgestalter bei der „Musica Viva“ des Bayrischen Rundfunks. Oft
waren Riedls Konzertprogramme in Fortsetzung seiner multimedialen
Arbeiten eigene Meta-Kompositionen, gewissermaßen Kompositionen von
Kompositionen.
Josef Anton Riedl hat nie unterrichtet, er hat auch im weiteren Sinne
keine „Schule“ begründet. Und dennoch hat er als Komponist,
Klangkünstler, Lautpoet, Hörspielmacher, Organisator und als Freund eine
Vielzahl von Menschen nachhaltig geprägt. Wir werden ihn vermissen.
Michael Hirsch