Von: neuemusik@kulturserver-nrw.de
Datum: Thu, 6 May 2021
Betreff: [Neuemusik] Gazette Neue Musik in NRW – Wittener Tage für neue Kammermusik 2021
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[Wittener Tage für neue Kammermusik 2021]
Als vor einem Jahr die Wittener Tage für neue Kammermusik 2020 erstmals in ihrer Geschichte nicht live vor Ort sondern als Radio- und Online-Festival präsentiert wurden, waren viele von uns noch zuversichtlich, dass es sich hierbei um einen einmaligen Ausrutscher handelt und wir uns spätestens 2021 in alter Frische zwischen Saalbau und Märkischem Museum wiederfinden werden. Die Coronapandemie hat uns leider eines Besseren belehrt, doch während der WDR dazugelernt hat und vom 23. bis 25.4.21 ein hochprofessionelles Festival durch den Äther und ins weltweite Netz schickte, sind meine persönlichen Fortschritte bescheidener. Auch nach einem Jahr zwischen Streamings und Podcasts kommt keine rechte Begeisterung auf. Was da aus dem WorldWideWeb angespült wird, ist zwar vielfältig und interessant, aber dieses Prickeln und Knistern, dieses besondere Gänsehautgefühl, das mich beim Live-Erleben gerade Neuer Musik mit zuverlässiger Regelmäßigkeit überkommt, will sich nur sehr selten einstellen. Als Informationsmedium möchte ich das Netz nicht mehr missen, aber sobald die sinnlichen Elemente ins Spiel kommen (sollten), die für mein Menschen-, Kunst- und Musikerlebnis konstitutiv sind, werden die Maschen für mich löchrig. Und ausgerechnet in dem Jahr, in dem ich unaufhaltsam auf meinen 60. Geburtstag zusteuere (ein Datum, das mir normalerweise wenig Kopfzerbrechen bereitet), kommt der grausame Verdacht auf, dass es sich hierbei um ein Generationenproblem handeln könnte, ich also langsam aber sicher zum alten Eisen gehöre. Die sogenannten digitalen Eingeborenen scheinen sich wie die Fische im Internet zu tummeln, während ich immer erst knietief durch innere und äußere Hemmnisse waten muss. Wenn ich dann endlich in tieferen Gewässern angekommen bin, bin ich womöglich zu träge oder zu schlecht gerüstet, um weit genug hinauszuschwimmen. Aber trotz dieser altersbedingten Einschränkungen habe ich mich nicht abschrecken lassen, die heimischen Empfangsgeräte in Stellung gebracht und gleich mit dem ersten Werk holte Mauro Lanza mich ganz gut ab, da er genau dieses Spiel mit Nostalgie und Technik zum Thema macht. In seinem dreiteiligen Aether is an haunted place trifft ein Streichquartett auf manipulierte Radiowellen und analoge Störgeräusche, Satellitensignale und Geisterstimmen. Daraus entsteht ein knisterndes, knarzendes Irrlichtern, bei dem die instrumentalen und elektronischen Ebenen auf komplexe Weise und bis zur Ununterscheidbarkeit interagieren und für das – wie ich zugeben muss – die Rezeption per Kopfhörer nicht die schlechteste ist. Auch Sasha. J. Blondeau kombiniert in Des mondes possibles das Quatuor Diotima mit elektronischen Klängen, wählt aber einen abstrakteren Ausgangspunkt, indem er sich von topologischen Räumen inspirieren lässt, und bleibt gleichzeitig näher an den Streicherklängen, die flirrend und vibrierend schließlich in schwindelnde Höhen entgleiten. Entstanden sind die Aufnahmen in Paris unter Mitwirkung des IRCAM und auch einige andere Konzerte wurden in den Heimatorten der beteiligten Musiker aufgezeichnet. So waren das Klangforum aus Wien und das Ensemble Ascolta aus Stuttgart zugeschaltet. Aus Wien erreichte uns Subsonically Yours von Mirela Ivičević, die nach eigenen Angaben mit diesen unhörbaren Grüßen eines ihrer leisesten Stücke vorlegt, wobei sich das Material auf kleinem Raum entfalte, ohne Energie zu verlieren. Dabei wechseln sich huschende, wuselnde Klänge ab wie verschiedene Aggregatzustände – mal innehaltend, mal auf der Stelle tretend, mal quirlig-nervös. Zeynep Gedizlioğlu geht in Eksik – Entzug von den Stimmen der Ascolta-Musiker aus, die undomestizierte raue Laute hervorstoßen, entzieht sie auf diese Weise ihrer normalen instrumentalen Routine und erschafft so ein tastendes, brüchiges Klangbild. Michael Pelzel erkundet inspiriert von Glocken und Gongs The dark side of Telesto. Der Saturnmond, dessen dunkle Seite hier beleuchtet wird, gilt als das hellste Objekt unseres Sonnensystems und diese Doppelbödigkeit spiegelt sich auch in der Musik, deren ruhiger, getragener, fast schwermütiger Verlauf wiederholt von heftigen Bläserattacken und aggressiven Einbrüchen zerfurcht wird.
Zwar ohne Zuhörer aber immerhin direkt aus dem Wittener Saalbau erklang das Konzert mit dem Ensemble Schwerpunkt, einem Blechbläserquintett, und dem Ensemble Nikel, das sich aus Klavier, E-Gitarre, Saxophon und Schlagzeug zusammensetzt. Ersteres hob die Werke von Zaneta Rydzewska und Bernhard Gander aus der Taufe. Ganders Messing geht von den Ordnungszahlen von Kupfer und Zink (29 und 30) aus und amalgamiert markante Rhythmen, untergründiges Grummeln und nervöses Schnattern. Rydzewska ließ sich für ihr Werk Zauberwürfel von dem gleichnamigen Spielgerät inspirieren und leitet daraus nicht nur die klangliche Ebene sondern auch die Bewegungen der fünf Bläser ab. Auch Huihui Chengs vom Ensemble Nikel uraufgeführtes Werk Sonic leak, eine Studie über die Technik des Abdämpfens, beinhaltet theatralische Elemente, die in der radiophonen Variante auf der Strecke bleiben. Im Stream sieht man die Musiker mit allerlei Dämpfern und ungewöhnlichen Materialien hantieren, wobei die klangliche Ebene nach einem freejazzigen Auftakt immer löchriger wird. Mit Hugues Dufourts L’Atelier rouge d’après Matisse entfacht Nikel einen sinnlichen Klangrausch mit komplexen Texturen, die von brachialen Akzenten der E-Gitarre verwirbelt werden.
Am schwersten fällt der Verzicht auf das Live-Erlebnis – zumindest solange VR-Equipment noch nicht zur heimischen Standartausrüstung zählt – bei Werken, die die visuelle Ebene und den Raum einbeziehen wie bei Klaus Langs Zusammenarbeit mit Sabine Maier, die in nirgends für Ensemble und projiziertes Licht analoge Projektoren zum Einsatz bringt. Langs dichte Klangflächen, die mal von harschen Impulsen der E-Gitarre, mal von zartem Klirren und Klingeln zum Beben gebracht und zwischenzeitlich vom Klacken und Surren der Projektoren abgelöst werden, erklingen in einem unbestimmten Raum, der von diffusen Licht- und Rauchzeichen mehr angedeutet als ausgeleuchtet wird. Der Computerbildschirm kann hier nur eine vage Ahnung vermitteln. Das gleiche gilt für Brice Pausets Vertigo/Infinite Screen, eine intermediale Komposition für Ensemble in 6 Gruppen, 18 Bild-Module und Elektronik, dessen visuellen Teil das Duo Arotin & Serghei beisteuert. Pauset, der mit weiteren Werken und einem Porträtkonzert vertreten war, pflegt nicht nur – gespeist durch seine Erfahrungen als Pianist und Cembalist – eine intensive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, sondern lässt auch philosophische und gesellschaftskritische Aspekte in sein Werk einfließen. Vertigo ist Teil eines Werkzyklus, der sich nicht weniger als ein Porträt des 20. Jahrhunderts vorgenommen hat und zu dem auch seine Kafka-Oper Strafen zählt. Ausgehend von Hitchcocks berühmtem Film reflektiert Pauset Themen wie Wahrnehmung, Kino und Psychoanalyse, jedoch auf so komplexe Weise, dass ich ihm – noch dazu in der reduzierten Darbietungsform – kaum gerecht werden konnte. Auch in seinem Werk Konzertkammer, das vom WDR Sinfonieorchester mit Jean-Pierre Collot am Piano uraufgeführt wurde, greift Pauset gedanklich weit aus, indem er ausgehend von den Verwerfungen der Finanzkrise die Abhängigkeit von Strukturen ergründet, aber man kann das Werk auch ohne diesen Hintergrund als turbulentes Wechselspiel zwischen Klavier und Orchester genießen.Die in Witten üblichen Freiluftaktionen sollten diesmal im sogenannten Schwesternpark stattfinden, einem versteckten und verwunschenen Garten, der Anfang des 20. Jahrhunderts von Adolf Schluckebier als Erholungsstätte für die Schwestern des benachbarten Krankenhauses angelegt wurde. Das hätte wirklich hervorragend zur derzeitigen Pandemielage gepasst, doch so sehr sich Kornelia Bittmann und der amtierende Gartenbautechniker Burkhard Bredenbeck auch mühten, dem Hörer das Gelände und die geplanten 12 Klanginstallationen nahe zu bringen: Es fühlt sich an, als wäre ich zu einem opulenten Mahl geladen worden, bekäme aber nur vollmundige Beschreibungen der avisierten Köstlichkeiten geboten und müsste mit leerem Magen von dannen ziehen. Die Realisierung soll 2022 nachgeholt werden und dann lohnt sich sicher auch eine ausführlichere Berichterstattung.Insgesamt bin ich weiter hinausgeschwommen als gedacht, aber am Ende steht die Hoffnung auf 2022 zwischen Saalbau und Schwesternpark. (Alle Konzerte sind ein Jahr lang in der Mediathek des WDR verfügbar.)
Zu den seit 2017 erschienenen Gazetten Neue Musik in NRW
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