Von: neuemusik@kulturserver-nrw.de
Datum: Thu, 23 Mar 2023
Betreff: [Neuemusik]Gazette Neue Musik in NRW – Ausgabe April 2023
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April 2023
Gewesen: Oper Dogville von Gordon Kampe in Essen
Angekündigt: Wittener Tage für neue Kammermusik – Achtbrücken-Festival in Köln – Soundseeing im Münsterland u.v.a.m.
(möchten Sie diese Gazette monatlich neu per E-Mail erhalten? Dann senden Sie bitte eine Mail an neuemusik-join@list.kulturserver-nrw.de ) [Oper Dogville von Gordon Kampe in Essen]
Corona hat auch in diesem Fall für erhebliche Verzögerungen gesorgt, aber am 11.3.23 war es endlich soweit: Gordon Kampes neue Oper Dogville erlebte im Essener Aalto-Musiktheater seine Uraufführung. Ausgangspunkt ist Lars von Triers gleichnamiger Film aus dem Jahre 2003. Er erzählt die Geschichte von Grace, die scheinbar auf der Flucht in einem abgelegenen Dorf Schutz sucht. Unterstützt von dem neunmalklugen Tom, der ein Auge auf sie geworfen hat, gelingt es ihr, die Zustimmung der Dorfgemeinschaft zu erlangen. Nach anfänglichem Fremdeln scheint alles in guten Bahnen zu verlaufen. Sie besteht die Probezeit, man feiert gemeinsam, doch dann kippt die Stimmung. Grace‘ prekäre Situation – wiederholt erscheinen Polizisten mit Fahndungsaufrufen – erzeugt ein Machtgefälle, das die Dorfbewohner immer schamloser und unerbittlicher ausnutzen. Demütigungen und Herabwürdigungen steigern sich ins Groteske, sie wird von fast der gesamten männlichen Belegschaft vergewaltigt und nach einem Fluchtversuch wie ein Hofhund in Ketten gelegt. Dabei ist es den Tätern stets wichtig, die Verantwortung für ihr Handeln von sich zu weisen. Man habe ja keine andere Wahl, Grace solle das alles nicht als Strafe und schon gar nicht persönlich nehmen. Das Ende ist vermutlich allgemein bekannt und kann daher hier verraten werden: Grace entpuppt sich als Tochter eines Gangsterbosses, von dessen Lebenswandel sie sich eigentlich distanzieren wollte. Doch auf derart eklatante Weise mit der Schlechtigkeit der Welt konfrontiert, ist es auch ihr nicht mehr möglich, ihrem Namen gerecht zu werden und Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Statt mit dem reitenden Boten aus der Dreigroschenoper hält sie es mit der Seeräuber-Jenny und lässt Köpfe rollen. Sie setzt an zu einem fulminanten Rachefeldzug, denn nur indem man das Böse seiner gerechten Strafe zuführt, könne man die Welt zu einer besseren machen.
Der Plot fasziniert durch seine scheinbare Schlichtheit und tatsächliche Komplexität und so wundert es nicht, dass er schon wiederholt für das Theater adaptiert wurde. Auch Gordon Kampe ließ sich nicht zweimal bitten, als Hein Mulders, der damalige Intendant des Aalto-Theaters, mit dem Vorschlag an ihn herantrat, daraus eine Oper zu entwickeln, und machte sich zusammen mit einem Regieteam rund um David Hermann ans Werk. Während der originale Text operngerecht reduziert und auf den allwissenden Erzähler verzichtet wurde, ist Kampes Musik um so ausgefeilter. Das offenbart bereits die Eingangsszene, in der sich die Dorfgemeinschaft nacheinander auf der noch leeren Bühne präsentiert. Jede und jeder von ihnen erhält eine spezifische musikalische Charakterisierung: Die Ordnungsfanatikerin ergeht sich in zwanghaften Repetitionen, der Dorffiesling lässt seine Stimme überschnappen. Sie vereinen sich zu einer musikalischen Kraft, in der von Anfang an das Chaos und der Zerfall lauern. Besonders filigran ist der blinde McKay gezeichnet, der sich mit Grace zu einem fast zarten Duett vereinigt. Doch im Allgemeinen gilt, was Kampe bereits im Programmheft prophezeit: „Je süßer die Musik klingt, umso fieser sind die Personen und Situationen.“ Das Kind Jason lässt vom ersten Ton an keinen Zweifel daran aufkommen, dass hinter seinem glockensüßen Gesang Abgründe lauern. Als sonst schwächstes Glied in der Kette erkennt er als erster, welch perfides Potential die neue Konstellation in sich birgt. Besonders kostet Kampe die dramatischen Momente aus, wozu er vor allem in der apokalyptischen Schlusssequenz reichlich Gelegenheit hat. Er lässt Paukenhagel auf uns niederprasseln, fährt breite pastose Bläserakkorde auf und greift tief und gekonnt in den orchestralen Farbtopf.
Doch nicht nur musikalisch wird viel geboten, überzeugend ist vor allem das kongeniale Bühnenbild von Jo Schramm. Es wird von einer von links unten nach rechts oben aufsteigenden Schräge beherrscht, auf der ein 57 m langer Bühnenwagen die Räume, in denen die Personen agieren, sukzessive an uns vorbeiziehen lässt. Sie sind in beige-biederer Sperrholzoptik gestaltet und strahlen wie auch die Figuren in ihren Alltagsklamotten eine minimalistische Spießigkeit aus. Indem sich Grace auf diesem Parcours langsam vorarbeitet, wird die ganze Ausweglosigkeit ihrer Situation offenbar. Auch ihr Fluchtversuch mit Bens Pick-up ist von Anfang an zum Scheitern verurteilt und führt statt in die Freiheit in ein klaustrophobisches, untergründiges Verlies. Dieses hat nur die Form des vermeintlichen Fluchtfahrzeugs, das wie ein hilfloser Käfer auf dem Rücken liegt.
Das alles klingt gut und ist es auch, doch die Stärke des Abends ist zugleich seine Schwäche. Im Film sorgt von Trier mit Verfremdungen wie der radikalen Reduzierung des Bühnenbilds oder dem Einsatz eines allwissenden Erzählers für Distanz, doch gerade dadurch trifft er ins Mark, denn er versperrt uns die Ausfallwege; er traktiert uns mit seinem perfiden Sadismus und kapert uns emotional, bis wir wie die Dorfbewohner in der Falle sitzen und weder nach links noch nach rechts können. In der Oper faszinieren die Musik und das Bühnenbild gerade durch ihre Stimmigkeit, wir bewundern die Komplexität und Wucht der Klänge und staunen über die Opulenz der Bilder – vor allem wenn in der letzten Szene Papas Gangsterauto die Schräge hinabfahrend vor einem grandios ausgeleuchteten Weltenbrand die ganze Pappkulisse unter sich zermalmt. Wir lassen uns fallen, aber wir fallen weich, denn die Verpackung schützt uns vor dem Inhalt. Unterm Strich ist es doch ’nur‘ ein konventioneller Opernabend; das oft noch lange nachwirkende mulmige Gefühl, das von Triers Filme häufig bei mir auslösen, stellte sich in Essen jedenfalls nicht ein.
Die Standing Ovations waren trotzdem berechtigt – nicht zuletzt aufgrund der musikalischen und szenischen Umsetzung. Auch wenn sie es verdient hätten, möchte ich hier nicht alle Sänger und Sängerinnen einzeln aufzählen, aber Lavinia Dames als Grace kann nicht unerwähnt bleiben. Mit klarer makelloser Stimme verkörpert sie eine Reinheit, der letztlich nichts etwas anhaben kann und die über alle Gemeinheiten triumphiert.
[Termine im April]
Köln
In der Philharmonie stehen György Ligeti und Minas Borboudakis am 2.4., Brett Dean und Mark Barden am 14.4., Witold Lutosławski am 16.4., George Benjamin am 16., 17. und 18.4., Andrea Lorenzo Scartazzini am 19.4., György Kurtág am 20.4. und Ondřej Adámek am 23.4. auf dem Programm.
Die Kunststation Sankt Peter lädt ein zu Lunchkonzerten am 1., 8., 15. und 22.4. und im Rahmen des Festivals Acht Brücken ist dort am 28. und 29.4. die Konzertinstallation Myriad III von Rebecca Saunders zu erleben. Saunders steht in diesem Jahr im Fokus des Festivals, das sich dem Thema Stille widmet. Den Auftakt bildet am 28.4. ein Konzert der Reihe ‚Musik der Zeit‘ mit dem Sinfonieorchester und Rundfunkchor des WDR und am 29.4. dirigiert George Benjamin eine konzertante Aufführung seiner Oper Lessons in Love and Violence. Im Vorfeld coacht das Ensemble Musikfabrikvom 23. und 24.4. beim European Workshop for Contemporary Music junge Musiker und Musikerinnen aus Europa, die sich am 30.4. im Wallraf-Richartz-Museum mit einem Konzert präsentieren.
Die Musikfabrik veranstaltet außerdem am 17.4. ein Montagskonzert und das Studio Musikfabrik ist am 23.4. mit Klanglandschaften in Krefeld und Köln und am 24.4. mit Schülern und Schülerinnen im Maximilian-Kolbe-Gymnasium zu erleben.
In der Lutherkirche und im Lutherturm kommt in der Karwoche vom 3. bis 7.4. Die Stille der Dinge und am 26.4.klangbasierte Kunst im Rahmen der monatlichen Soirée Sonique zu Gehör.
Am 11.4. präsentiert die reiheM Thomas Ankersmit und Carl Stone im Loft, im Staatenhaus hat am 14.4. die Oper La bête dans la jungle von Arnaud Petit Premiere, die Konzertreihe Ambient Chapel ist am 14.4. und 28.4. in Neu Sankt Alban zu Gast, das Asasello Quartett interpretiert am 21.4. im MAKK Streichquartette von Cage und Crumb und am 26.4. kommt das Ensemble ColLAB Cologne ins Domforum.
Fast tägliche Konzerte sind im Loft zu erleben und FUNKT präsentiert jeden 2. und 4. Dienstag im Monat ein Radioformat mit Elektronik und Klangkunst aus Köln (am 11.4. mit Andreas Oskar Hisch). ON Cologne lädt regelmäßig in der Reihe ChezOn Gäste zum Gespräch (am 12.4. Jiyun Park) und weitere Termine und Infos finden sich bei kgnm, Musik in Köln sowie Veranstaltungen mit Jazz und improvisierter Musik bei Jazzstadt Köln.
Ruhrgebiet
Im Bochumer Kunstmuseum wird am 14.4. die Reihe ‚Klangbilder‘ mit improvisierter Musik fortgesetzt – mit Martin Blume am Schlagzeug – und in der Melanchthonkirche stellt sich am 28.4. Stefan Heucke in einem Gesprächskonzert vor.
Im Dortmunder U ist vom 17.3. bis 27.8. Nam Yun Paik in der Ausstellung I Expose the Music von seiner musikalischen Seite zu erleben und am 13.4. spielt das E-Mex-Ensemble dazu Musik, die aus der Zukunft kommt. Im Konzerthaus stehen Pavel Karmanov und Alfred Schnittke am 16.4., Sofia Gubaidulina am 19.4. und George Benjamin mit einer konzertanten Aufführung seiner Oper Lessons in Love and Violence am 27.4. auf dem Programm. Im domicilerwarten uns das Sheen Trio am 6.4. und The Dorf am 20.4. und das nächste mex-Konzert findet am 29.4. im Künstlerhaus statt.
Im Duisburger Lokal Harmonie steht am 15.4. das Duo Interstellar 227 auf der Bühne und die Duisburger Philharmoniker spielen am 26. und 27.4. Manfred Trojahns Sinfonie Nr. 5.
Die Essener Philharmonie kündigt Matthias Pintscher am 15.4., Víkingur Ólafsson mit Werken von Philip Glass am 25.4., Wolfgang Rihms Verwandlung 6 am 27. und 28.4. und George Benjamin mit einer konzertanten Aufführung seiner Oper Lessons in Love and Violence am 30.4. an. In der Folkwang Hochschule ist am 17.4. das Ensemble für Neue Musik Spring zu erleben.
Im Makroscope in Mülheim an der Ruhr erwarten uns das Trio Vließ am 21.4. und stromspiesser am 30.4.
Düsseldorf
Die Tonhalle kündigt ein neues Werk von Lorenzo Scartazzini am 16.4. und das Notabu-Ensemble in der Reihe ‚Na hör’n Sie mal‘ am 26.4. an, in der Neanderkirche erklingt am 21.4. elektronische Musik und Orgel, in der Kunsthalle findet ebenfalls am 26.4. ein Performancekonzert mit Alexandra von der Weth, Gerhard Stäbler und Kunsu Shim statt und der Klangraum 61 veranstaltet am 28.4. den nächsten Salon Neue Musik.
Sonstwo
Neben aktuellem Jazz am 22. und 29.4. bietet die Aachener Gesellschaft für zeitgenössische Musik am 14.4. eine neue Ausgabe der Reihe ‚Hören und Sprechen über Neue Musik‘ mit dem Fokus auf Anno Schreier.
In Bielefeld hat am 15.4. die Oper Die Frau im Eis (Anthropocene) des schottischen Komponisten Stuart MacRae Premiere, zu der am 3.4. eine Einführung stattfindet. Die Cooperativa Neue Musik veranstaltet monatlich einen Jour fixe und in der Zionskirche erklingt am 2. und 9.4. zeitgenössische Musik.
Das Musiktheater Transfleisch von Sergej Maingardt kommt am 3.4. in der Bundeskunsthalle Bonn zur Aufführung, die In Situ Art Society präsentiert The Dissonant Series mit digital Primitives am 2.4. und Echolot am 22.4. und ganz in der Nähe, in der Kunsthalle Hangelar in Sankt Augustin, findet am 23.4. das nächste Werkstattkonzert statt.
Im Krefelder TAM erwartet uns im April Motoren-Werk – wie immer freitags um 22 Uhr.
In der Black Box in Münster stehen Zbigniew Chojnacki mit Akkordeon & Live-Elektronik am 2.4. und Phil Minton und Carl Ludwig Hübsch am 29.4. auf der Bühne.
Das Klangkunstfestival soundseeing lädt wieder ein, das Münsterland zu erkunden. Zum Auftakt kann man noch bis zum 30.4. Arbeiten der Klasse Suchan Kinoshita der Kunstakademie Münster im Kulturgut Haus Nottbeck erkunden.
In der Dauerausstellung des Deutschen Klingenmuseums in Solingen präsentiert Verena Barié am 1.4. eine Kunstperformance unter dem Motto Gewalt und Mitgefühl.
Vom 21. bis 23.4. trifft sich wieder alles in Witten zu den Tagen für neue Kammermusik. Neben vielen anderen kommt Carola Bauckholt zum Gespräch und Manos Tsangaris geht auf Sendung.
Am 2. und 3.4. bringt das Wuppertaler Sinfonieorchester Musik von Ligeti und Bernd Alois Zimmermann zur Aufführung, am 5.4. kommen Robyn Schulkowsky und Joey Baron ins Loch und der ort kündigt das Alafia Ensemble am 22.4., ein Konzert zur Erinnerung an Peter Kowalds Global Village Ensemble am 27.4. und das island trio in der Reihe ‚all female‘ am 29.4. an.
Termine mit improvisierter Musik finden sich bei NRWJazz.
Zu den seit 2017 erschienenen Gazetten Neue Musik in NRW
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