Von: neuemusik@kulturserver-nrw.de
Datum: Thu, 28 Dec 2023
Betreff: [Neuemusik]Gazette Neue Musik in NRW -Ausgabe Januar 2024
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Januar 2024
Gewesen: ‚Musik der Zeit‘ mit Pinked Dreams – Septembersonate von Manfred Trojahn an der Oper am Rhein in Düsseldorf
Angekündigt: Zimmermanns Soldaten in der Kölner Philharmonie – Frakzionen in Bielefeld – EarFest in Duisburg u.v.a.m.
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[‚Musik der Zeit‘ mit Pinked Dreams beim WDR]
Die WDR-Reihe ‚Musik der Zeit‚ kündigte am 1.12. Pinked Dreams an und tatsächlich wurde es zum Auftakt sowohl optisch als auch akustisch bunt. In einem Outfit, als wäre er einer ganzen Batterie von Farbeimern entsprungen, eroberte der Posaunist und Komponist Alex Paxton die Bühne und entfachte mit seinem Instrument ein wild-wucherndes Klangfeuerwerk, das die Ohren zum Flirren und Dröhnen brachte. In seinem neuen Stück Pullbackhat Biome-Dunk (a Chat-Can Let-Go) stand ihm die Komponistin und Vokalistin Jennifer Walshe zur Seite und während die Solo-Parts frei improvisiert wurden, spielte das WDR-Sinfonieorchester unter der Leitung von Titus Engel ordentlich nach Noten. Besonders in Paxtons zweitem an diesem Abend interpretierten Werk Od Ody Pink’d, zu dem er sich von Bildern der Malerin Ody Saban inspirieren ließ und in dem er ebenfalls als Solist auftrat, präsentierte das Orchester großspurige, mit dickem Pinsel aufgetragene Gesten, die das lustvoll-überschwengliche, schmetternde und scheppernde Spiel der Posaune konterkarierten – ein bewusst gesetzter Kontrast, der nicht neu ist und wie viele dieser Crossover-Versuche etwas konstruiert wirkte.
Auch Frank Zappa, der fast auf den Tag genau (am 4.12.) vor 30 Jahren starb, hatte Spaß daran, die Musikwelt aufzumischen und zwischen Medien und Genres hin- und herzupendeln. So entstand aus einem Gitarrensolo ein Stück für Synclavier, das sich wiederum, transkribiert von Andrew Digby, als While You Were Art II in ein analoges Werk für Orchester verwandelte. Auch die Einsparmaßnahmen des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks nahm Zappa bereits in den 70ern vorweg, indem er vorausschauend Revised Music for Low Buget Orchestra komponierte. Aber was sich so humorvoll und schräg anhört, erweist sich im Klangbild als ziemlich harmlos. Der Perkussionist wagt ein paar rockige Anflüge, die aber schnell versanden. Ansonsten plätschert die Musik vor sich hin, schlägt ein paar rhythmische Haken und erschöpft sich schnell.
Als zweite Uraufführung des Abends erklang Jennifer Walshes The Site of an Investigation in reduzierter Fassung für Stimme und Orchester. Als Untersuchungsgegenstand hat sie sich gleich mal die Probleme der ganzen Welt vorgenommen. In 26 Abschnitten galoppiert sie durch Seelenschmerz, Mikroplastik, Pollock als KI-Kunst für alle, Hass, Scham, Marsmissionen und was uns sonst noch so alles zu schaffen macht. ‚Brutal and beautiful‘ soll es werden, aber letztlich ist es weder das eine noch das andere, denn weh tut diese Gesellschaftskritik zum Nulltarif natürlich niemandem und auch die ins Publikum geschmetterte Parole ‚es wird kompliziert‘ bleibt ein leeres Versprechen. Genauso beliebig wie die Textschnipsel, die Walshe selbst singend und sprechend zum Besten gibt, ist leider auch die Musik. Schwebende Klangschlieren, rauschende Windmaschinen, ein paar scheppernde Bläserakkorde und viel Konventionelles. Es würde mich nicht wundern, wenn hier KI am Werk war – sozusagen KI-Komposition für alle.
[Septembersonate von Manfred Trojahn an der Oper am Rhein in Düsseldorf]
Henry James scheint besonders auf männliche Opernkomponisten eine gewisse Faszination auszuüben. Im April kam die Oper La bête dans la jungle von Arnaud Petits nach einer Geschichte von James in Köln zur Aufführung (s. Gazette Mai), jetzt hat es Manfred Trojahn erwischt. Seiner neuen Oper Septembersonate liegt die Erzählung The Jolly Corner zugrunde, nach der er selbst das Libretto verfasst hat. Auch inhaltlich gibt es unübersehbare Parallelen: In beiden Fällen begegnen uns Männer im Herbst ihres Lebens (September!), die sich (wie James selbst) mit ungelebten Beziehungen herumschlagen und dabei unausgesetzt mit sich selbst befasst sind. Diesmal ist es Osbert Brydon, der einst vor familiären Erwartungen nach Europa floh und dort als Schriftsteller Karriere gemacht hat. Doch als er jetzt in seine amerikanische Heimat zurückkehrt, um sein Erbe abzuwickeln, begegnet uns kein selbstbewusster Mann, der gegen äußere Widerstände seiner Bestimmung gefolgt ist. Vielmehr wird er gepeinigt von Selbstzweifeln und umgetrieben von der Frage, ob er damals die richtige Entscheidung getroffen hat und was ansonsten aus ihm hätte werden können. Eine wichtige Rolle bei dieser Selbstbefragung spielt Ellice, eine Jugendfreundin, mit der er jedoch damals über kindliches Theaterspiel nicht hinausgekommen ist. Wäre da mehr möglich gewesen oder besteht vielleicht jetzt noch eine Chance? Anstatt konkrete Anstrengungen in dieser Richtung zu unternehmen, bleibt Osbert der Vergangenheit und seiner Nabelschau verhaftet. Ellice wirkt (selbst in einer überzogen handfesten Verführungs- oder besser Überrumpelungsszene) ungreifbar, so dass man sich fragt, ob sie vielleicht nur seinem Wunschdenken entsprungen ist. Die direkteste Konfrontation findet mit seinem Doppelgänger statt, mit dem er sich in der vorletzten Szene einen wahren Showdown liefert, bei dem die beiden Kontrahenten sich wechselseitig Gier bzw. Egoismus vorwerfen.
Dieses komplexe Psychodrama wird in der Düsseldorfer Oper am Rhein unter der Regie von Johannes Erath wirkungsvoll in Szene gesetzt. Das Bühnenbild besteht im Wesentlichen aus drei großen, beweglichen Treppenanlagen, die das von den Geistern der Vergangenheit heimgesuchte Elternhaus symbolisieren und eindrücklich das Unstete, Bodenlose und Ambivalente von Osberts Verfassung widerspiegeln. Alles ist ständig in Bewegung, Realität und Phantasie, Gegenwart und Vergangenheit sind unauflösbar ineinander verwoben. Die Bühnenbildnerin Heike Scheele kleidet die Figuren in historisierende Kostüme, wobei besonders bei Ellice das Diffuse ihrer Präsenz durch mehrfachen Kleiderwechsel zum Ausdruck kommt. Mal ist sie elegante Dame, mal verspieltes Mädchen, mal verführerisches Glamourgirl, mal Monroe-Imitat.
Manfred Trojahn bleibt seinem der Tradition verhafteten Kompositionsstil treu (nach eigener Aussage stand diesmal vor allem Richard Strauss Pate), aber er versteht sein Handwerk und schafft eine Musik, die die emotionalen Verwerfungen seiner Protagonisten sensibel widerspiegelt. Geschmeidig folgt sie dem Geschehen und lässt ‚wie alter Duft aus Märchenzeit‘ mit versteckten Zitaten Vergangenes anklingen. Bei der Begegnung Osberts mit seinem Alter Ego verengt sie sich zu einem enervierenden Pizzicato, das die Luft vibrieren lässt. Die Reduktion auf ein 15-köpfiges Kammerensemble sorgt für Transparenz, die Konzentration auf dunkle Klangfarben (bei den Streichern kommen nur Bratschen, Celli sowie ein Kontrabass zum Einsatz!) verstärkt die melancholische Grundstimmung; verlockt von der Celesta kann die Musik aber auch hohe Register erklimmen. Trojahns Tonsprache entspricht dem Sujet und bildet zusammen mit der Inszenierung ein stimmiges Ganzes, doch gerade dieses wirkt in seiner Gesamtheit wie aus der Zeit gefallen. Ein Schwelgen in alten Themen, alten Klängen und alten Bildern, dem man sich gerne für einen Abend überlässt, das aber mit uns und unserer Gegenwart nicht mehr viel zu tun hat. Leider am aktuellsten sind die um sich selbst kreisenden Männer, die ihre infantile Selbstbezogenheit mit ihrem Künstler- oder sonst irgendwie wichtigen Auftrag bemänteln – aber selbst da sind wir hoffentlich schon einen Schritt weiter.
Bei der von mir besuchten Aufführung war Juliane Banse als Ellice leider unpässlich, so dass sie sich auf die Bühnendarstellung beschränkte, während Elena Fink von der Seite die Gesangspartie übernahm – vor allem angesichts der kurzen Vorbereitungszeit eine beeindruckende Leistung. Auf der Bühne präsentierten sich als schon eingespieltes Team Holger Falk als Osbert, Susan Maclean als Haushälterin Mrs. Muldoon und Roman Hoza als Osbert II. Besonders überzeugte am Pult der Düsseldorfer Symphoniker Vitali Alekseenok, der den Entstehungsprozess des Werks intensiv begleitet hat und mit spürbarem Engagement die Fäden zusammenhielt.
Im Januar finden noch drei Aufführungen statt und wer sich vorher einstimmen möchte, kann mit dem knapp halbstündigen Film Das weiße Blatt einen Blick hinter die Kulissen werfen.
[Termine im Januar]
Köln
In der Philharmonie steht Wolfgang Rihms 9. Streichquartett am 8.1., eine halbszenische Aufführung von B.A. Zimmermanns Soldaten am 18.1., Musik von Sofia Gubaidulina und Moritz Eggert am 20.1. sowie von Philip Glass ebenfalls am 20.1. und das Konzert für Violoncello und Orchester von Detlev Glanert am 21.1. auf dem Programm. In der Hochschule für Musik und Tanz erwartet uns am 13.1. ein Konzert zu Ehren von York Höllers 80. Geburtstag, am 18.1. ein Seminar zum Thema ‚Vom Dada zur Digi-Kunst‘ mit Sergej Maingardt und am 30.1. ein Kompositionsabend mit Studierenden der Klasse Prof. Johannes Schild. Die Musikfabrik lädt am 22.1. und 29.1. zum Montagskonzert in ihr Studio.
In der Reihe ’soundings‘ gastiert am 11.1. Mariska de Groot mit einer Licht- und Klangperformance in derKunsthochschule für Medien, in der Kunststation Sankt Peter erklingt am 12.1. Musik zur Eröffnung der interaktiven Klanginstallation Sming von Superbe, die WDR-Reihe ‚Musik der Zeit‚ gestaltet am 17.1. eine Orchesterwerkstatt, das Asasello Quartett spielt am 19.1. Werke von Nono und Gubaidulina im MAKK, Beat Keller und Joke Lanz stehen am 26.1. im Atelier Dürrenfeld / Geitel auf der Bühne und ebenfalls am 26.1. präsentiert das Ensemble electronic ID ein neues Werk von Andrés Quezada im Urania-Theater.
Einblicke in die freie Szene bekommt man bei ON Cologne und Noies, der Zeitung für neue und experimentelle Musik in NRW. ON veranstaltet am 10.1. in der Reihe ChezOn ein Werkstattgespräch mit Alexis Ludwig aka Graneg Sandpapier.
Fast täglich finden Konzerte im Loft statt und jeden 2. und 4. Dienstag im Monat sendet FUNKT ein Radioformat mit Elektronik und Klangkunst aus Köln. Weitere Termine und Infos finden sich bei kgnm, Musik in Köln und impaktsowie Veranstaltungen mit Jazz und improvisierter Musik bei Jazzstadt Köln.
Ruhrgebiet
Das Dortmunder domicil kündigt The Dorf am 18.1. und Tunnel & Meadow am 26.1. an.
Im Duisburger Lehmbruck Museum erklingt am 12.1. Musik zum Geburtstag von Morton Feldman (am 14.1. wird das Konzert in der Kirche Pax Christi in Krefeld wiederholt). Am 19.1. hat in der Deutschen Oper am Rhein Iwein Löwenritter, eine Kinderoper von Moritz Eggert, Premiere und am 28.1. bringt die Folkwang Woche Neue Musik frische Klänge auf den Campus Duisburg. Der EarPort lädt vom 26. bis 28.1. zum EarFest und bereits am 21.1. findet dort eine Ausstellungsfinissage mit Gespräch, Poesie und Performance statt.
In der Essener Folkwang Hochschule stehen Kompositionen von Folkwang-Lehrenden am 9.1., Tape Sessions am 11.1. und 25.1. sowie die Folkwang Woche Neue Musik vom 28.1. bis 31.1. auf dem Programm. In der Philharmonieerwarten uns die deutsche Erstaufführung von The Triumph of the Octagon von Philip Glass am 14.1. und Sound Lab, das Kompositionsprojekt des NOW!-Festivals, am 19.1., der Umlandkalender kündigt das Trio Van Huffel / Fifezius / Camatta im Rabbit Hole am 17.1. an und im Folkwang Museum findet am 28.1. ein Konzert in der Reihe Stromspiesser statt.
Das Gelsenkirchener Musiktheater im Revier lädt am 27.1. zu einem Portraitkonzert Kaija Saariaho ein.
Düsseldorf
In der Johanneskirche spielt Paul Rosner am 6.1. Violinwerke des 21. Jahrhunderts zu einer Lichtprojektion von Vania Petkova und in der Tonhalle kommen am 12., 14. und 15.1. Werke von Lotta Wennäkoski und Henri Dutilleux zur Aufführung.
Sonstwo
Vom 19. bis 21.1. findet in der Bielefelder Zionskirche das Festivals Frakzionen statt, auf das bereits am 14.1., 16.1. und 18.1. Vorträge und Konzerte einstimmen. Die Cooperativa Neue Musik lädt am 24.1. zum Jour fixe.
Das Mirror Quartet mit Martin Blume, Hans Peter Hiby, Georges Paul & Onno Govaert kommt am 27.1. in den BonnerDialograum Kreuzung an Sankt Helena.
In der Detmolder Hochschule für Musik stehen ein Portraitkonzert Lucia Kilger am 13.1., ein Konzert mit dem Ensemble Earquake am 25.1. und ein Werkstattkonzert der Schlagzeugklasse mit Tan Duns Snow in June für Percussion und Cello am 31.1. auf dem Programm.
Das Theater am Marienplatz in Krefeld widmet sich die ganze Saison über dem Merz-Bau von Kurt Schwitters. Es entsteht ein KlangMerzBau, der monatlich erweitert wird.
Im Moers wird am 5.1. der neue Improviser in Residence gekürt und am 7.1. findet ein Übergabekonzert statt.
In der Black Box trifft sich am 7.1. die Münsteraner Improvisationsszene, am 15.1. spielt das E-Mex-Ensemble im LWL-Museum Musik vom Drehkreuz Bosporus, im Theater im Pumpenhaus landen am 27.1. die Crashing Airplanes und in der Musikhochschule erklingen am 31.1. in einem Konzert der Schlagzeugklasse Werke von John Cage, Adriana Hölzsky u.a.
Weitere Termine mit improvisierter Musik finden sich bei NRWJazz.
Zu den seit 2017 erschienenen Gazetten Neue Musik in NRW
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