[ 13. Dezember 2010 ]

LÜBECK – Konzert des Elektronischen Studios 14.12.2010

From: Harald Muenz
Sent: Monday, December 13, 2010 10:19 AM
Subject: LÜBECK – Konzert des Elektronischen Studios

Musikhochschule Lübeck
Große Petersgrube 21, 23552 Lübeck

Konzert des Elektronischen Studios
Di. 14.12.2010 | 20 Uhr | Großer Saal

Katharina Roth (*1990)
ne pas presque rien – mais un peu plus 10′
Hommage à Luc Ferrari (2010, überarbeitete Version)
für Violoncello und Tonband, Adam Grob, Violoncello

Karel Goeyvaerts (1923-1993)
Compositie Nr 7 met convergerende en 2′
divergerende niveaus (1955)
Compositie Nr 5 met zuivere tonen (1953) 3′

Harald Muenz (*1965)
Orèlob 80 (2008) 2′

Doungkyu Rhee (*1984)
Schmiedestraße (2010; UA) 7′

Thomas Reifner (*1990)
AH-64/TADS (2010; UA) 9′

-Pause-

Karel Goeyvaerts
Compositie Nr 4 met dode tonen (1952) 10′

Reso Kiknadze (*1960)
FOF-Variationen (1998) 6′

Wataru Katoh (*1981)
Reflexion (2010; revidierte Fassung) 8′
für Violine mit Elektronik, Yoo Jung, Violine

Künstlerische Leitung: Harald Muenz
Produktionsassistenz und technische Gesamtleitung: Reso Kiknadze
Wir danken Thomas Fricke-Masur für seine Unterstützung.

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Katharina Roth – ne pas presque rien – mais un peu plus
In diesem Stück ist der Klang des Wassers, genauer des Meeres, mein
Ausgangsmaterial. In dieses Material habe ich genauer „hineingeschaut“ –
quasi wie mit einer akustischen Lupe – und schließlich verschiedene
Abstufungen miteinander kombiniert, so dass ein farbenprächtiges und
schillerndes Continuum entstanden ist. In dieses Continuum dringt das Cello
ein und geht schließlich darin auf. Cello und Tonband sind in meinem Stück
als eine Einheit gedacht, sollen also miteinander verschmelzen. Davon gibt
es innerhalb des Stückes verschiedene Abstufungen.

Karel Goeyvaerts – Compositie Nr 4 met dode tonen
Compositie Nr 5 met zuivere tonen
Compositie Nr 7 met convergerende en divergerende niveaus

Der im flämischen Antwerpen geborene Karel Goeyvaerts studierte bei Darius
Milhaud und Olivier Messiaen in Paris und setzte sich früh eingehend mit dem
Werk Anton Weberns auseinander. Mit seiner Sonate Nr. 1 für zwei Klaviere
(1950-51) wurde er als Autor der ersten streng seriell organisierten
Komposition bekannt; konsequentes Reihendenken entsprang Goeyvaerts‘
geradezu religiösem Begriff von Perfektion und Reinheit in der Musik. 1951
lernte er bei den Darmstädter Ferienkursen Karlheinz Stockhausen kennen, für
den er die Sonate analysierte und deren zweiten Teil sie gemeinsam
uraufführten. „Bald sollte Boulez das Gleiche entdecken, als er Polyphonie X
schrieb, und Stockhausen mit Kreuzspiel, letzteres direkt von meiner Sonate
beeinflußt, wie Stockhausen später zugestand“ (Goeyvaerts in Mark Delaere:
Karel Goeyvaerts. Selbstlose Musik. Texte, Briefe, Gespräche. Köln:
MusikTexte, 2010). Die ca. 80 Briefe, die Goeyvaerts an Stockhausen schrieb,
bilden ein Schlüsseldokument für die Kompositionsgeschichte der frühen
1950er Jahre. Sie wurden im November 2010 erstmals publiziert.

Der lebhafte Briefwechsel endet am 24. 9. 1958. Wenige Tage zuvor hatte
Goeyvaerts auf Einladung Bernd Alois Zimmermanns den Eröffnungsvortrag zum
Münchner Zwölftonkongreß gehalten, in dem er den von ihm selbst begründeten
Serialismus als „das Schiff … zum Tode“ bezeichnete, aber auch
prognostizierte, „daß die serielle Musik nicht allein der wahrste
musikalische Ausdruck unserer Zeit ist, sondern auch, daß sie als ein
schönes Zeugnis in der Zukunft klingen wird.“ Danach zog er sich aus dem
Musikleben zurück. Nach mehrjähriger Übersetzertätigkeit für die Fluglinie
Sabena wird er vom flämischen Rundfunk zunächst ans elektronische Studio
IPEM in Gent, später als Redakteur für neue Musik in Brüssel verpflichtet.
In seinen Kompositionen ab etwa 1979 wandte sich Goeyvaerts vom seriellen
Komponieren ab und entwickelte eine eigenständige Art mehrschichtiger
Minimal Music, die er „entwickelnd-repetitiv“ nannte. Sie gipfelt in der
quasi-tonalen Oper Aquarius (1991-92).

Bis 1953 strebte Goeyvaerts eine Gesamtrationalisierung der musikalischen
Struktur an; aus diesem Grund schien ihm lange Zeit allein elektronische
Musik Gültigkeit beanspruchen zu können, da in ihr jegliche Strukturidee
kompromißlos und ohne Rücksicht auf die Gegebenheiten des menschlichen
Instrumentalspiels verwirklicht werden konnte. Die Komposition Nr. 4 mit
toten Tönen (1952) fokussiert die kompositorische Arbeit ganz auf den Aspekt
der Zeitgestaltung. „Anstatt unkontrollierte Klangdimensionen zu benutzen“
(Goeyvaerts) überläßt der Komponist hier dem Studio-Realisator die Auswahl
der vier für deren Artikulation benötigten Klangmaterialien.
Goeyvaerts‘ elektronische Komposition Nr. 5 mit reinen Tönen vom März 1953
scheint die erste Sinustonkomposition überhaupt zu sein. Sie mußte bis
Herbst 1953 auf die Realisierung warten, die dann im Kölner WDR-Studio unter
Mithilfe von Stockhausen und Gottfried Michael Koenig erfolgte. In der
Zwischenzeit allerdings hatte Stockhausen bereits seine Elektronische Studie
Nr. 1 komponiert, die er in Köln sofort hatte realisieren können. In
Komposition Nr. 5 reduziert Goeyvaerts den musikalischen Prozeß auf
isolierte akustische Einheiten und greift auf die elementarsten Aspekte von
Klangkomposition zurück: Die Zeit- und Raumproportionen sind die zahlenmäßig
einfachsten 1:2, 2:3, 3:4, die sich auch in der Obertonreihe wiederfinden;
dies läßt sich vielleicht mit der Reduktion der bildnerischen Mittel auf
elementare Formen und Grundfarben bei Piet Mondriaan vergleichen. Goeyvaerts
schreibt: „In der Komposition Nr. 5 hatte ich zum ersten Mal rationale
Proportionen von Zeit, Lautstärke und Tonhöhe gestaltet. Beim Hören gibt es
aber offenbar einen großen Unterschied in der Wahrnehmungsschärfe jeder
dieser drei Dimensionen. Die Tonhöhenproportionen sind ausgesprochen
deutlich und bekommen dadurch eine Autonomie, die es schwierig macht, sie
noch auf weitere Dimensionen zu beziehen: Sie bilden ein eigenes, stark
ausgeprägtes Phänomen.“

In seiner Komposition Nr. 7 mit konvergierenden und divergierenden Niveaus
(1955) versucht Goeyvaerts zum ersten Mal kontinuierliche Bewegungen
zwischen festen Punkten zu schaffen, was zu einer neuartigen, fluktuierenden
Kontrapunktik führt.

Harald Muenz – Orèlob 80
Die Komposition ist ein kurzer Beitrag zum CD-Projekt „Noise of Cologne“
herausgegeben vom Kulturamt der Stadt Köln. Das Vorbild scheint durch;
bereits zu Lebzeiten des Komponisten hatte es aufgrund seiner Popularität
mit erheblichen Vorbehalten zu kämpfen. Der Autor selbst blieb – Adornos
Aufsatz zum Trotz – unter „Avantgarde“-Kollegen tabu, seine Musik als
„Kaffeehausmusik mit Nonen“ diskreditiert. Sehr viel spätere Komponisten
hätten hier „minimalistische“, oder auch „spektrale“ Qualitäten erkennen
können: Traditionelle Handwerksparameter wie pitch und duration werden
zugunsten der Klangfarbe kaltgestellt, parallel zum quasi durchgehenden
Intensitäts-zuwachs treten immer dissonantere Obertöne hinzu bis Glissandi
gar auf ein Tonhöhen-kontinuum jenseits chromatischer Stufen verweisen. Die
Tanzform indes scheint geradezu „postmodern“ ausgehöhlt. Zum 80sten der
Versuch einer Rehabilitation des musikalisch Unterschätzten bei den
„Connaisseurs“ – und das auch noch rückwärts. (hm 2008)

Doungkyu Rhee – Schmiedestraße
Ich war in den Sommerferien in Korea und habe dort auf einer Insel Urlaub
gemacht. In der Nacht hörte ich die Klänge von Grillen. Sonst war niemand
dort, deswegen drangen diese Geräusche noch deutlicher an meine Ohren. Ich
fand diese Laute unheimlich schön; sie inspirierten mich zum Komponieren.
Andere Klänge, die in meinem Stück vorkommen, habe ich an einer Baustelle in
der Lübecker Schmiedestraße aufgenommen, wo ich gerade wohne. Diese
Bauarbeiten dauerten 3 Monate lang und während dieser Zeit war ich völlig
mit den Nerven am Ende. Ich habe mit diesen beiden Materialien gearbeitet
und wollte wissen, wie die kontrastierenden Klänge miteinander verschmelzen
können.

Thomas Reifner – AH-64/TADS
Das Tonmaterial dieses Stücks entstammt der Audiospur des im April 2010 von
der Internet-Plattform „WikiLeaks“ veröffentlichten Videos mit dem Titel
„Collateral Murder“, das authentische Szenen eines amerikanischen
Militäreinsatzes mit zwei Kampfhubschraubern im Juli 2007 in Bagdad zeigt.
Die Aufnahmen enthalten Funksprüche der beteiligten Streitkräfte sowie
Bildmaterial der Visierkamera, die von dem System der Zielerfassung „Target
Acquisition and Designation Sights“ („TADS“) eines der Helikopter
aufgezeichnet wurden.
Das Video hat für Aufsehen in der Öffentlichkeit gesorgt, da bei dem Einsatz
zwei Kinder schwer verletzt und etwa ein Dutzend Zivilpersonen getötet
wurden – darunter zwei Mitarbeiter der internationalen Nachrichtenagentur
„Reuters“. Aufgrund der für solche „Air-to-Ground“-Angriffe üblichen großen
Entfernung und damit schlechten Sicht auf die Ziele, waren die Zivilisten
irrtümlich für bewaffnete Widerstandskämpfer gehalten worden.

Fasziniert hat mich die Authentizität und Exklusivität der Quelle.
Aufzeichnungen dieser Art werden unter Verschluss gehalten und gelangen nur
über illegale Wege an die Öffentlichkeit.
Das Klangmaterial selbst ist insofern eine Herausforderung, als dass es sich
auf wenige Elemente wie Grundrauschen, Stimmen sowie einen
Bestätigungs-Piepton der Funkgeräte beschränkt, zudem verzerrt und durch
Störgeräusche verschmutzt ist. Mein Ziel war es, dieses Material einerseits
ohne klangliche Bearbeitung, andererseits mit verschiedenen Filter- und
Verfremdungsverfahren in einen musikalischen Kontext zu bringen, ohne dabei
das narrative Moment des Videos zu vernachlässigen.

Reso Kiknadze – FOF-Variationen
FOF (Fonction d’Onde Formantique) ist ein Opcode der alten
Musikprogrammiersprache Csound (in den 1990er Jahren unser primäres Lern-
und Komponierwerkzeug im Studio) und basiert auf der ursprünglich in IRCAM
entwickelten Synthesemethode zur Vokalsimulation. In dieser kleinen
(selbst)ironischen Studie werden die etwa 15 Parameter dieses Opcodes mal
einzeln, mal in Gruppen variiert, einer der zuvor festgelegten Kurven
folgend und zwischen dem Audio- und Subaudiobereich pendelnd; dabei werden
die Grenzen eben dieser Simulation erkannt und „zugegeben“.

Wataru Katoh – Reflexion
Der Titel „Reflexion“ benennt zwei Prozesse, die im Stück zwischen der
Geige, dem Computer und dem Komponisten entstehen. Der erste Prozess zeigt,
dass die von der Geige gespielte Phrase durch den Computer und weiter durch
den vom Komponisten gegebenen kompositorischen Sinn als Klang, der eine
gewisse Bedeutung und Funktion hat, im Raum existiert. Der zweite Prozess
ist, dass die Phrase der Geige in Echtzeit aufgenommen wird und dass die
Sampling-Datei sofort als eine Klangreflexion wiedergegeben wird.

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