Nachruf für Gerhard Steinke, geboren am 12.8.1927 in Dresden, gestorben am 26.5.2025 in Berlin. Toningenieur, Forscher, Lehrer, Entwickler, Audio-Consultant, AES Vice President Europe 1991/92. Seine Arbeit war technisch wegweisend und fand weit über die Landesgrenzen hinaus Anerkennung.
Als Schüler wurde Steinke zur Wehrmacht eingezogen, kam in Wolfsburg in amerikanische Gefangenschaft, kehrte Ende 1945 nach Dresden zurück. 1947-1949 Toningenieur beim Landes-Sender Dresden. 1949-1953 Elektrotechnik- und Akustik-Studium an der TH Dresden. 1953-1989 Mitarbeiter / Laborleiter / Direktor am RFZ und Mitwirkung bei der Konzeption des Funkhauses Block B Nalepastraße. 1956 Gründung des Labors für „Akustisch-Musikalische Grenzprobleme“ und 1959 des „Studios für künstliche Klang- und Geräuscherzeugung“. 1963 führte Steinke gemeinsam mit einem Team aus Forschung, Rundfunk und Industrie die Rundfunk-Stereofonie in der DDR ein und entwickelte später das weltweit genutzte Beschallungsverfahren DELTA-STEREOFONIE [DSS]. Seit 1963 aktiv in der AES. 1990-92 Abteilungsleiter bei der Deutschen Telekom (DAB, MPEG, Mehrkanalton). Verantwortliche Mitarbeit in OIRT und ITU/CCIR für u.a. Mehrkanaltechnik, Studioakustik sowie in der Planungsgruppe Surround-Sound-Forum im VDT. Zahlreiche Veröffentlichungen und Patente, Ehrungen für sein Lebenswerk (u.a. Ehrenmedaille der OIRT und des VDT, AES-Gold-Medal).
Wenden wir uns nun dem Thema Elektroakustische Musik (EM) zu und fragen, was hat Gerhard Steinke dazu beigetragen? Das ist so viel, dass ich es nur ausschnittsweise benennen kann. Bekannt dürfte sein, dass unter seiner Leitung nicht nur das Subharchord entstand, sondern auch ein weltoffenes Experimentalstudio für EM. Die Hintergründe dieser politisch riskanten Entwicklung musste man in den 60er und 70er Jahren möglichst verschleiern, aber Steinke hat in den 90er Jahren das dramatische Geschehen unterhaltsam rekapituliert und interpretiert, immer gespickt mit schön-heiteren Anekdoten, etwa mit jener Alias-Strategie: die EM wurde wegen des verpönten, weil als menschenfeindlich eingestuften „Elektro“-Wortes nicht als solche benannt, sondern man sagte einfach „Klangkunst“ dazu.
Seine Tätigkeit als Akustiker und Forscher im Zusammenspiel mit der Verantwortung für das Experimentalstudio (übrigens mit steter Förderung des Gerhard Probst, Vizeminister und verantwortlich für die Telekommunikation in der DDR), öffnete die Tore in die Welt: Steinke wurde Mitglied der AES, besuchte 1955-57 die Darmstädter Ferienkurse, er nahm Kontakt mit zahlreichen Studios auf (Bratislava, Warschau, Mailand, Paris, WDR-SEM Köln, Siemensstudio München), und traf viele Menschen, die damals direkt oder indirekt die internationale Entwicklung der EM beeinflussten: u.a. Hermann Scherchen, Herbert Eimert, Werner Meyer-Eppler, Josef-Anton Riedl, Karlheinz Stockhausen (1). So gelang es Steinke und seinem Team, die EM in der DDR zu etablieren – entgegen parteipolitischer Bedenken und mitten im Kalten Krieg. Er prägte etwas, das 15 Jahre später mit der Gründung des AdK-Studios durch Georg Katzer zum Durchbruch der EM in der DDR führte. Übrigens schon im Rahmen seiner Lehrtätigkeit für Komponisten und Tonmeister der Musikhochschule Hanns Eisler in Ost-Berlin verbreitete er das ganze EM-Repertoire des Klassenfeindes, und in der Akademie der Künste am Robert-Koch-Platz hielt Steinke in den 60er Jahren Vorträge mit vielbeachteten Vorführungen zur elektronischen Klangerzeugung. Seine etwa zeitgleich angebotene 16-teilige Sendereihe im DDR-Deutschlandsender lief 1965 mit Unterstützung des Redakteurs Gerhard Schwalbe fast unbehelligt unter dem Titel „Auf dem Wege zu einer neuen Klangkunst“.
Über den Werdegang des Subharchords ist viel publiziert worden. Das Projekt war zunächst verknüpft mit Oskar Sala und seinem Mixturtrautonium: Sala in West-Berlin erhielt 1949-1951 vom Ost-Berliner Rundfunk den Auftrag, ein „Quartett-Trautonium“ zu bauen. Sala vermochte aber unter den schwierigen Nachkriegsbedingungen und als Einzelperson und Bastler diesen teuren Bau nicht zu vollenden, sein „Drahtverhau“ wurde zwar verschrottet, aber es führte wiederum zum Plan, ein geeignetes Instrument unter dem Namen Subharchord selbst nachzubauen, von Ernst Schreiber mit modernerer Technik entworfen, mit einer Tastatur versehen und mit Riedls MEL-Filtern erweitert. 1962-1970 entstanden 81 Produktionen im RFZ-Studio, davon 41 mit Einsatz des Subharchords und 14 „Konzert-Stücke“. Berühmte RFZ-Werke lieferten u.a. Dessau (Lukullus), Matthus (Galilei), Rzewski (Zoologischer Garten), Wefelmeyer (Protest), Hohensee.
So schön die vom Rundfunk finanzierte RFZ-Studio-Einrichtung auch war: die Räume gehörten zu einer Forschungseinrichtung, und die befürchtete mit Recht, dass sie durch unvorsichtige Termini oder Äußerungen in Studio-Veröffentlichungen Schaden nehmen könnte. Steinke plante daher ab 1968 mit dem Studio in das Funkhaus überzusiedeln, aber dieser Plan misslang und besiegelte sogar das Ende des RFZ-Studios: 1969 hatte man – angeblich – im riesigen Funkhaus für so etwas keinen einzigen Raum mehr zur Verfügung, das Subharchord kam für die Verwendung von „Illustrationsmusik“ in den Hörspielbereich, und die RFZ-Leitung empfahl, man möge das Experimentalstudio in Adlershof langsam „einschlafen“ lassen. – Entsprach dieser Abgang im Osten einer allgemeinen Zeitgeist-Reaktion, die auch im Westen wirkte: das Siemens-Studio München verschwand 1970 endgültig, und die Presse strafte die EM ab, sogar nach ihrem legendären Auftritt auf der Expo 1970 in Osaka. War 1970 allgemein ein Neustart der EM fällig?
Die endgültige Schließung des RFZ-Studios 1970 muss Steinke tief getroffen haben, weil er für diese geliebte Einrichtung so viel Arbeit, Zeit, Nerven und künstlerisches Empfinden aufgebracht hatte. Seitdem wird für ihn die EM-Studioproduktion nur noch als Geschichte aufgetreten sein! Sein Subharchord hingegen lebte weiter und Steinke schwärmt 2018: „Ich habe in den vergangenen 50 Jahren noch nie jemanden gehört, der so virtuos und perfekt mit dem Subharchord spielen kann.“ (2)
Gerhard Steinke konnte begeistern, und er vermochte sich selbst zu begeistern, hat über seine Geschichte(n) jederzeit und ausführlich und sehr unterhaltsam berichtet: über SEINE elektroakustische Geschichte, die uns damit so nahe kommt, als ob wir sie selbst erlebten – ja, mit Bewunderung, Dank und Anerkennung.
Folkmar Hein, 7. Juni 2025
(1) (Der Briefwechsel von Gerhard Steinke in Sachen EM befindet sich (noch unbearbeitet) im Archiv des Elektronischen Studios der TU Berlin, jetzt Audiokommunikation.)
(2) (gemeint war Tomomi Adachi in einem AdK-Konzert)
Quellenhinweise:
• Gerhard Steinke „Rückblick auf die Arbeit des ‚Studios für künstliche Klang- und Geräuscherzeugung‘ im Rundfunk- und Fernsehtechnischen Zentralamt (Deutsche Post) 1960-1970, Berlin- Adlershof“, in DecimE-Mitteilungen Nr. 10 1.9.1993, ab Seite 18, mit ausführlichem Anhang
• Gespräch „EM in der DDR“, Veranstaltung EMhören 2.7.2009 im Elektronischen Studio TU Berlin; mp3.
• Gerhard Steinke „Subharchord® …“ mit Literaturliste, 2020
• Gerhard Steinke: „Die Wiedergeburt des Klangerzeugers Subharchord“, in: Katalog Wien Modern 2007, hrsg. von Berno Odo Polzer und Thomas Schäfer, 2007, S. 162-164.
• Friedemann Kootz „Ein Leben für den guten Ton, Interview mit Toningenieur und Tontechnik-Legende Gerhard Steinke“, Studio-Magazin/Fa. Jünger-Audio 08/17
• Gero Cacciatore & Matthias Pasdzierny „Inside the studio, spaces of electronic Musicproduction — Berlin/Cairo“, Verlag Hatje Cantz, 2025
• Studio für Elektroakustische Musik der Akademie der Künste: „Das Subharchord“
Internationale Dokumentation Elektroakustischer Musik (EMDoku):
• Gerhard Steinke gesamt
• Gerhard Steinke Person
• Werkliste des RFZ-Studios
• Subharchord
Abkürzungen
• RFZ: Rundfunk- und Fernsehtechnisches Zentralamt der Deutschen Post (Berlin Adlershof)
• AES: Audio Engineering Society
• VDT: Veband Deutscher Tonmeister
• OIRT: Organisation Internationale de Radiodiffusion et de Télévision.
• ITU: International Telecommunication Union / CCIR: Comité Consultatif International des Radiocommunications