DEGEM Journal

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[ 24. Juli 2023 ]

Nachruf auf Gottfried Michael Koenig

Nachruf auf
Gottfried Michael Koenig
Magdeburg 5. Oktober 1926 – Culemborg 30. Dezember 2021

von Martin Supper

„Gottfried Michael Koenig gehört zu den seltenen Geistern, die – wie schon Schönberg – wissen, dass der goldene Mittelweg zu keinem Ziel führt. Ihr umfassender Blick auf Heute und Gestern wird für die Entwicklung des heutigen Musikdenkens entscheidend sein, vor allem wenn es sich um ein neues Medium wie den Computer handelt. Sie sind es, die nach jedem neuen Schritt neue Fragen stellen können, die den Auswahlprozess weitertreiben.“ (Nieuwe Rotterdamse Courant, 31. Oktober 1986).

Gottfried Michael Koenig kam 1954 – kurz nach Karlheinz Stockhausen – an das legendäre Kölner Studio für elektronische Musik des WDR (damals noch NWDR), wo er dann zehn Jahre lang arbeitete. Ein wesentliches Anliegen des Studios und dessen Mitarbeitern bestand darin, die Konsequenzen serieller Ästhetik im Hinblick auf elektroakustische Kompositionsprozesse einzulösen. Neben eigenen Kompositionen wie „Klangfiguren I“ (1955) und „Klangfiguren II“ (1956) realisierte Koenig während dieser Zeit unter anderem Werke von Kagel, Ligeti, Goeyvaerts, Brün und Pousseur. Stockhausen assistierte er bei der Arbeit an „Gesang der Jünglinge“ (1955/56) und „Kontakte“ (1959/60).

Ausbildung

1946 nahm Koenig das Studium der Kirchenmusik an der Staatsmusikschule Braunschweig auf und wechselte 1947 an die Nordwestdeutsche Musikakademie Detmold, wo er Komposition bei Günter Bialas, Klavier bei Jan Natermann, Analyse bei Wilhelm Maler und Akustik bei Erich Thienhaus studierte. Ab 1950 war er am Institut für musischtechnische Gestaltung an der Musikhochschule Köln eingeschrieben und studierte nebenbei Computertechnologie in Bonn. Seine Neigung, naturwissenschaftliche Interessen und kompositorische Ideen zu vereinen, schien aufzugehen, als er bei den Darmstädter Ferienkursen 1951 Vorträge von Robert Beyer und Werner MeyerEppler zu Möglichkeiten der elektroakustischen Klangerzeugung hörte. Mehrere Jahre nahm er an den Darmstädter Ferienkursen teil, bei denen er später auch als Dozent auftreten sollte.

Klang–Farbe

Koenig hatte sich im Studio nie für Klangobjekte, sondern für den Prozess einer Komposition interessiert. Seine Versuche sollten der elektronischen Musik den „instrumentalistischen“ Charakter nehmen. Daher interessierten ihn Synthesemodelle, die an akustischen Vorbildern orientiert sind, an der digitalen Klangsynthese gerade nicht. Das von ihm entworfene Klangsyntheseprogramm SSP (Sound Synthesis Program) verwendet zur Klangerzeugung nur die beiden Parameter Amplitude und Zeit. Radikaler hat zu dieser Zeit kaum jemand gedacht.

Die konsequent durchkonstruierten Klangstrukturen in „Klangfiguren II“ (1955) und mehr noch in „Essay“ (1957), weisen bereits auf seine spätere Orientierung in Richtung Computermusik hin. „Terminus I“, 1962 noch in Köln realisiert, „Terminus II“ (1966/67) dann am Studio für elektronische Musik der Universität Utrecht. Koenig 1967: „Die Kontinuität des Farbübergangs wird zu realisieren sein in einer kontinuierlichen musikalischen Form, in einer Bewegung des musikalischen Gedankens, die die Mikrogestalt des Klanges, das Auf und Ab der Schwingungen, erfaßt und in ihr sich ausdrückt.“

„Klangfiguren II“ und Stockhausens „Gesang der Jünglinge“ wurden im selben Konzert – am 30. Mai 1956 – in Köln uraufgeführt.

Musik und Computer

Pierre Barbaud ist der erste Europäer, der sich mit algorithmischer Komposition beschäftigte und in den 1960er Jahren erstmalig computergenerierte Kompositionen vorstellte. Weitere europäische Pioniere der frühen Partitursynthese sind Iannis Xenakis und Gottfried Michael Koenig. Seit 1963 entwickelte Koenig seine Kompositionsprogramme: “Projekt 1” beschreibt eine allgemeine serielle Kompositionsstrategie, die mit Hilfe von Zufallsgeneratoren verschiedene Ergebnisse liefert. Mit “Projekt 2” muss eine Komposition Schritt für Schritt durchgestaltet werden: Einzelgrößen für verschiedene Parameter der kompositorischen Struktur (Instrumente, Zeitgestalt, harmonisch/melodischer Bereich, Lautstärke), Auswahlregeln für Einzelgrößen (mit oder ohne Zufall, gruppenweise, gerichtet, ungerichtet) sowie Verknüpfungsregeln. Beide Programme haben „ihre Wurzel […] im seriellen Denken […], das […] symbolische Räume zu strukturieren sucht“ (Koenig 1990). Konnte bei anderen Kompositionsalgorithmen, beispielsweise MUSICOMP (Lejaren A. Hiller) oder GROOVE (Max V. Mathews und Richard F. Moore), gewissermaßen jeder „komponieren“ und jeder Stil generiert werden, so musste sich der Anwender bei Koenigs “Projekt 2” bei jedem Schritt genaue Rechenschaft darüber ablegen, was er gerade tut. Eigentlich analysieren die Anwender ihr eigenes Vorhaben, bevor sie anfangen zu komponieren.

Xenakis hatte stets Algorithmen entwickelt, die ihm bei musikalischen Aufgaben assistieren sollten. Im Gegensatz dazu hat Koenig den Anspruch, mit seinen Kompositionsalgorithmen allgemeine musikalische Aufgaben zu lösen, so dass seine Programme auch von anderen Komponisten eingesetzt werden konnten.

Bereits Mitte der 1960er Jahre wurde das Prinzip der Spannungssteuerung am Utrechter Institut für Sonologie eingeführt. Bekannt wurde in diesem Zusammenhang der variable Funktionsgenerator – das Wort Sequenzer gab es damals noch nicht. Koenigs 1968/69 entstandene Funktions-Stücke „Funktion Rot“, „Funktion Grau“, „Funktion Violett“, „Funktion Blau“, „Funktion Indigo“ und andere wurden jeweils von einer seriell organisierten Spannungskurve auf dem Funktionsgenerator abgeleitet, wobei hier auch aleatorische Funktionen Eingang fanden. Koenig (1997) war dabei „… vor allem fasziniert von den musikalischen Konsequenzen, die sich aus technischen Versuchsanordnungen ergaben…“

Die Sogwirkung, die vom Kölner Studio für elektronische Musik ausging, verlagerte sich in den 1960er Jahren nach Utrecht: ab 1964 wurde Gottfried Michael Koenig zum künstlerischen Leiter des neugegründeten Studio voor Elektronische Muziek van de Rijksuniversiteit Utrecht, das später den Namen Instituut voor Sonologie erhielt.

Neben der künstlerischen Aktivität war eine Besonderheit des Utrechter Institutes, dass Studiogeräte und musikbezogene Software in den eigenen Forschungseinrichtungen entwickelt wurden, während die Schriftenreihen „Electronic Music Reports“ und „Sonological Reports“ des Instituts ästhetische Diskussionen dokumentierte. Auch die Kurse des Instituts waren weltweit gefragt.

Nicht zuletzt durch Koenigs Persönlichkeit, seine ästhetische Auseinandersetzung mit der Computermusik, seinen „nahezu physischen Ekel gegenüber amerikanischer Computer-Musik“ (Konrad Boehmer 1986), war Utrecht für lange Zeit eines der wichtigsten, für viele das wichtigste Zentrum der Computeranwendungen in der Musik. 1986 wurde das Institut dem Konservatorium von Den Haag angegliedert und wird heute von Kees Tazelaar geleitet.

Koenigs theoretische und künstlerische Veröffentlichungen zur Elektronischen- und Computermusik lassen zu Unrecht fast vergessen, dass Koenig auch zahlreiche Instrumentalkompositionen für Orchester und kammermusikalische Besetzungen schrieb: Klavier, Streichquartett, Streichtrio, Holzbläserquintett und vieles andere mehr. Über das dem LaSalle Quartet gewidmete „Streichquartett 1959“ urteilte der Cincinnati Enquirer am 6. April 1960: „Koenig findet seinen Ausgangspunkt bei Webern … Sein Quartett ist paradoxe Musik voller winziger Abweichungen und ebenso winziger Bestätigungen eines vertrauten Fragments, das verschwindet, ehe es erkannt oder begriffen werden kann. Koenig treibt ein wildes, phantastisches Spiel mit uns, indem er beweist, dass zwei mal zwei gleich fünf, oben unten ist; Regelmaß und Konvention sind rückständig. Schließlich haben alle Künstler ihre Tricks, zumindest solche mit Sinn für Ironie, unter denen man häufig die besten findet.“

Koenigs theoretische Schriften (siehe „Ästhetische Praxis. Texte zur Musik“, sechs Bände, Saarbrücken: Pfau 1991-2007) sind, was Gehalt, Stringenz und Relevanz anbelangt, in der Neuen Musik nach 1945 nahezu konkurrenzlos.

Familie

Gottfried Michael Koenig war verheiratet mit der Übersetzerin Ruth Koenig-Aaronberg (1936–2008) und hat mir ihr zusammen zwei Kinder.

Auszeichnungen

1961 erhielt Koenig eine Förderungsprämie des Landes Nordrhein-Westfalen, 1987 den Matthijs Vermeulen-Preis der Stadt Amsterdam, 1999 den Christoph und Stephan Kaske-Preis. 2002 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der philosophischen Fakultät der Universität des Saarlandes, Saarbrücken, verliehen. Im Wintersemester 2002/2003 hatte er die Edgard-Varèse-Gastprofessor für Computermusik an der Technischen Universität Berlin inne. 2010 erhielt er den Giga-Hertz-Preis des ZKM in Karlsruhe. Seit 2016 ist er Mitglied der Akademie der Künste, Berlin. Gottfried Michael Koenig wurde 1996 Ehrenmitglied der DEGEM.

Berlin – Juni 2023 – Martin Supper

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