DEGEM Journal

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[ 3. April 2017 ]

Nachruf auf Michael Hirsch (1958-2017)

Michael Hirsch (1958–2017)

Michael Hirsch war 16 Jahre alt, als er sich entschloss, an der „Arbeitsgemeinschaft Neue Musik“ des damaligen Religionslehrers, aber schon renommierten Komponisten Dieter Schnebel teilzunehmen. Er kam in Berührung mit früher Minimal Music von Terry Riley, den offenen Prozessen von Christian Wolff, mit Cage, Stockhausen, Kagel. Die AG wurde verschiedentlich von Josef Anton Riedl zu dessen Münchner Festival „Klang-Aktionen“ eingeladen. Schnebel und Riedl waren frühe Prägungen für Hirsch und dennoch blieb er als Komponist Autodidakt. Eine erste Komposition ist auf 1974/76 datiert, seit 1976 komponierte er kontinuierlich.

Von Anfang an ist seinem Komponieren eine Dialektik von Experiment und Tradition eigen. Neben klassischen Instrumentalformen wie Streichquartetten, Klaviersonaten und anderer Kammermusik gibt es Situationen wie acht Spieler an einem Kontrabass (Behandlungen, 1976) oder sieben Pianisten an einem Klavier (Zu 14 Händen, 1995), es gibt von Laut- und konkreter Poesie geprägte Sprachkompositionen und klassischen Gesang, es gibt Opern und neue Musiktheaterformen, und nie werden die Pole in einem Entweder-Oder behandelt, seine „undogmatische Offenheit gegenüber allen erdenklichen Mitteln musikalischen Ausdrucks“ führt meist zu Mischformen. Die verschiedenen „Genres“ lassen sich besser als Schichten verstehen, die zueinander in Beziehung gesetzt werden.

Schichten

Sowohl innerhalb kleiner besetzter Stücke wie auch in ganzen Werkkomplexen findet sich auffallend bei Hirsch eine Simultaneität aufeinander bezogener autonomer Schichten. In Kopfecke, Wunderhöhle (1996) für 3 Sprecher, 3 Kassettenrecorder, 1 Geräuschemacher, Klavier und Holztrommeln beispielsweise sind die Stimmen voneinander unabhängig, jedoch durch ein System aus Signalen und Reaktionen miteinander vernetzt. Hirsch fand für sich die Form des „Konvoluts“, die Sammlung unterschiedlicher Notationsformen, die ihm die Koexistenz von konventionell notierten Instrumentalschichten mit Sprachkompositionen, Tonbandmusik, Verbalpartituren und theatralen Spielanweisungen ermöglichte. Dahinter steht immer ein kompositorischer Plan des Ganzen. Durch diese Simultaneität des Autonomen gelang Hirsch eine eigene Art der Kontrapunktik, eine Art „Metapolyphonie“.
Das musikdramatische Projekt nach Franz Kafka Beschreibung eines Kampfes (1986-92) ist ebenfalls als Konvolut angelegt. Neben der musiktheatralen Gesamtaufführung ist es möglich, einzelne Bestandteile autonom oder in kleineren Kombinationen aufzuführen – eine Bewegung im Kontinuum zwischen Konzert und Musiktheater.

Musique Concrète

Neben Instrumentalmusik und Musiktheater ist das „Genre der musique concrète“ ein wichtiger Strang in Michael Hirschs kompositorischem Werk. Die Fixed Medias fungieren in verschiedensten Kompositionen als Zuspielungen, auf die sich Instrumente oder Stimmen beziehen oder die eigenständig simultan ablaufen. In Beschreibung eines Kampfes hat die Schicht der musique concrète die Funktion eines „akustischen Bühnenbilds“. Meistens sind sie auch als isoliert aufführbare Werke gültig, wie beispielsweise Umbau 2 (2010), das als Zweikanal-Version auch auf CD erschien und in seiner sechskanaligen Fassung Bestandteil des Volumens 3 von Hirschs Konvolut-Projekt ist. Die Fixed-Media-Kompositionen sind Überlagerungen von zum Teil schwer identifizierbaren konkreten Klängen, geräuschhaft und perkussiv, dem erweiterten Arsenal eines Schlagzeugers zuzurechnen, wenn Tonhöhen ins Spiel kommen, bleiben sie eher unbestimmt. Man hört Aktionen wie Rollen, Wühlen, Fallenlassen, Zerknüllen und kann die Objekte dazu allenfalls assoziieren. Den Kompositionen ist eine besondere Art der Performativität eigen, Hirsch selbst sprach, analog zu Schnebels „sichtbarer Musik“, von „hörbarem Theater“. In einigen Stücken wie im Zuspiel zu Intérieur à 1 (2015) erscheinen auch von Hirsch selbst eingesprochene Sprechfragmente von eigens dafür geschriebenen Lautkompositionen. Die Kompositionsmethode dieser Fixed Medias ist die der Collage, sie sind streng durchkomponiert, die Klänge sind entsprechend einer je Stück eigenen Dramaturgie dezidiert gesetzt. Die Spuren sind nur gelegentlich dezent elektronisch bearbeitet, z. B. verlangsamt oder in unterschiedliche (künstliche) Räume platziert.

Sprachkompositionen

Für seine Sprachkompositionen verwendete Hirsch häufig gefundenes Material wie heimlich aufgenommene Alltagsgespräche oder mitgeschnittene Fernsehinterviews. Akribisch transkribierte er Versprecher, Fehler, dialektale Eigenheiten und notierte sie nicht in phonetischer Umschrift, sondern in üblicher Schrift. Die abweichenden Phänomene unterstrich er noch durch Übertreibungen wie Buchstabenwiederholungen oder -auslassungen. Großbuchstaben und Fettdruck sind die einzigen Interpretationsanweisungen für Betonung oder Lautstärke. Das Ausgangsmaterial durchlief so mehrere Verfremdungs- und Übersetzungsprozesse. Zusätzlich generierte er Material, z. B. indem ganze Passagen rückwärts gesprochen transkribiert wurden. Bei der kompositorischen Behandlung orientierte sich Hirsch immer primär an der phonetisch- klanglichen Gestalt. Die gelegentlich verständlichen semantischen Felder erscheinen „frei schwebend“ in diesen „Sprach-Klanglandschaften“. Lieder nach Texten aus dem täglichen Leben (1992-95) ist die einzige gesprochene Solo-Komposition, alle anderen Sprachkompositionen sind als eigene Schicht eingebettet in größere musikalische Zusammenhänge wie in Dialog für 2 Sprecher, Klänge und Gegenstände (1997), in dem sich Elemente von Sprachkomposition, musique concrète, Klanginstallation und Performance mischen, oder in Hirngespinste, einer nächtlichen Szene für 2 Spieler mit Akkordeon (1996): der Akkordeonist mit konventionell notiertem Akkordeonpart sitzt Rücken an Rücken mit dem Sprecher, der mit seinem Akkordeon lediglich einfache, den Atem verlängernde Aktionen ausführt; Sprach- und Instrumentalmusik verbinden sich in der einen Figur, zu der beide Spieler verschmelzen.

Das Konvolut

Der Werkkomplex Das Konvolut (2001-2011) besteht aus vier Volumina, die einzeln oder in einer Gesamtaufführung hintereinander gespielt werden können. Die Volumina selbst bestehen jeweils aus einer Sammlung von Stücken, die sich autonom oder in simultanen Kombinationen aufführen lassen und so komplexere musikalische Verläufe generieren können. Die Sammlungen bestehen aus Schichten wie Instrumentalmusik, musique concrète, Sprach-, Vokalkompositionen und szenischen Elementen. Volumen 1 ist in einer Gesamtaufführung als „Ouvertüre“ im Theater-Foyer konzipiert, das Monodram Opera für eine Sängerin und CD-Zuspielung kann hier mit vier Instrumentalstücken sowie einer weiteren musique-concrète-Ebene kombiniert werden. Ähnlich verhält es sich mit den kammermusikalischen Studien in Volumen 2. In Volumen 3 erscheint dann die Kurzoper La Didone abbandonata, die auf einem Opera-seria-Libretto von Pietro Metastasio von 1724 basiert, das als Textebene den gesamten Konvolut-Komplex durchdringt. Die Oper kann inszeniert werden oder als Kantate konzertant bleiben. Volumen 4 beendet den Komplex dann mit vier monochromen Holzstücken, die alle mit reinen Holzklängen arbeiten – I für mindestens zwei Schlagzeuger, II für Zuspielung, III für zwei Geräuschemacher und IV für drei CD-Player.

Oper

Nachdem seine kompositorische Arbeit seit jeher davon geprägt war, grenzüberschreitend Elemente von Sprache und Szene zu integrieren und so neue Formen von Musiktheater und konzertante Zwischenformen zu entwickeln, stellte sich Hirsch mit seiner ersten Oper Das stille Zimmer (1998/99) ganz in deren Gattungstradition. Schon seit seiner Kindheit war Hirsch ein großer Opern-Fan, -Kenner und -Gänger. Er begriff jedoch das „Gesamtkunstwerk“ Oper als offenes Feld und kontrapunktierte die Komposition für fünf Frauenstimmen und Orchester mit Elementen von Hörspiel, Schauspiel, musique concrète, Sprachkomposition, Performance und Installation. Den fünf Frauen sind fünf männliche Schauspieler gegenübergestellt. Das Libretto

basiert allein auf Gedichten und Texten von Ernst Herbeck, alle Rollen sind Figuren aus Herbecks Gedichten. Die Oper bleibt in ihrer abstrakten Konstruktion ohne lineare Narration. Erst in den nachfolgenden Kurzopern arbeitete Hirsch mit veritablen Erzählstoffen.
Basierend auf Fernando de Rojas Lesedrama La tragicomedia di Calisto y Melibea (1499) schrieb Hirsch drei Kurzopern – Die Klage des Pleberio für Bariton, Kammerensemble und Zuspiel (2005), Celestina im Gespräch mit sich selbst für Tenor und Kammerensemble (2006) und Tragicomedia, eine Art A-Capella-Musiktheater für sechs Gesangssolisten (2009). Sie sah Hirsch als Stationen auf dem Weg zu einer neuen großen Oper, La Celestina. Geplant war eine weitere Vorstudie, die experimentellere Musiktheater-Mittel wie Elemente aus Sprechtheater, Performance und musique concrète verwenden sollte. Er arbeitete sich konvolutartig an dieses Großprojekt heran und ließ auch „noch völlig offen“, ob es eventuell ein „sehr heterogener Zyklus von mehreren, autonomen Stücken“ bleiben sollte.

Theaterarbeit

Michael Hirsch nannte sich Komponist und Schauspieler. Er spielte indes nie psychologisch geführte Rollen eines Sprechtheaters. Im Bilder- und Körpertheater Achim Freyers war er Bühnenfigur, meistens stumm. Sein Sprechen auf der Bühne für Lachenmann, Riedl oder Schnebel stand fast immer in musikalischen, sprachkompositorischen Zusammenhängen. Als Ensemblemitglied der Maulwerker interpretierte er schon seit Mitte der 80er Jahre Schnebels experimentelle Vokalmusik und dessen Kompositionen für Gesten und Stimme, später auch Stücke zahlreicher jüngerer Komponistinnen und Komponisten. Michael Hirsch war ein unvergleichlicher Performer. Früh hatte er Buster-Keaton-Studien betrieben, Quelle seiner unnachahmlich starken Bühnenpräsenz war die Verbindung seines darstellerischen und musikalischen Talents. Die Fähigkeit, sich beim Machen selbst zuzuhören und die Aktionen musikalisch zu strukturieren, verlieh seinem Spiel die ihm eigene Präzision und Klarheit. Einzigartig bleiben seine Versionen von Cages Theatre Piece oder den Theater-Soli aus den Song Books. Er durchschritt diese Soli mit seiner kompositorischen Vision, auch im Ausführen von Aktionen war er Musiker. Man muss sich vergegenwärtigen, dass Hirsch alle Aktionen für seine musique concrète selbst eingespielt hat. Auch einige seiner Sprachkompositionen hatte er für sich selbst geschrieben. Eine seiner letzten, Intérieur à 1 (2015), entfaltet im Spannungsfeld von Sprach-, Papieraktion und Zuspiel einen dichten inneren Kosmos, ungekünstelt und direkt, intensiv und klar.

Tod

Michael Hirsch starb plötzlich und wohl auch für ihn überraschend. Er stand mitten im Leben. Sein Opern-Projekt Dido an der Deutschen Oper hatte gerade erst Premiere und noch fünf Aufführungen vor sich. Seine abendfüllende musiktheatrale Komposition Sisyphos (Der Schlaf II) für fünf Maulwerker (Vokalisten/Darsteller) und 8-Kanal-Zuspielung, für das er 2015 ein Arbeitsstipendium des Berliner Senats erhalten hatte, harrte nach umfänglicher Materialsammlung und Vorkonzeption immer noch, mangels eines konkreten Aufführungstermins, der Ausarbeitung in eine Partitur. Auch der La Celestina-Zyklus bleibt nun unvollendet.

Was bleibt, ist sein vielschichtiges und reiches Werk in sehr eigener Handschrift, eine wichtige Position in der aktuellen Musik- und Musiktheaterwelt – und die Erinnerung an einen liebenswürdigen Menschen, einen Kollegen und Freund und seinen unerbittlichen Humor.

Christian Kesten

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