DEGEM Journal

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Das DEGEM Journal war von 2015-2020 ein deutschsprachiges Internetmagazin zur elektroakustischen Musik und Klangkunst, das die DEGEM News und die DEGEM Discuss um redaktionell erstellte Texte im Sinne der früheren DEGEM Mitteilungen ergänzen sollte. Das DEGEM Journal erschien hier in Form eines Blogs und bot die Möglichkeit, Beiträge zu Hard- und Software, ästhetische Diskussionen, Kongressberichte und Ähnliches zu veröffentlichen. Die Redaktion lag von 2015-2020 bei Sebastian Berweck.

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[ 7. Mai 2020 ]

PRIMAVERA EN LA HABANA – Ein Bericht vom Festival für Elektroakustische Musik in Havanna 2020 von Ludger Kisters

 

PRIMAVERA EN LA HABANA
Ein Bericht vom Festival für Elektroakustische Musik in Havanna 2020

von Ludger Kisters

Di. 10.3.2020: Zum Auftakt lud Enmanuel Blanco, Leiter des Laboratorio Nacional de Música Electroacústica, die Teilnehmer des Festivals zu einer Studioführung ein. Dabei betonte er, dass viele Studenten auch am eigenen Rechner komponieren, und sie verbinden laut Blanco häufig elektroakustische Musik und DJ-Kultur.

 

Im Studio: Hanna Hartman, Kristi Allik, Gregorio Jiménez, Enmanuel Blanco und Ludger Kisters

Diese Kombination stellte auch einen Fokus des Festivals dar: Das Programm enthielt zahlreiche Veranstaltungen mit DJs, die im Studio Havannas arbeiten, oft in Zusammenarbeit mit Instrumentalisten bzw. Sängern traditioneller kubanischer Musik.
Als Schwerpunkt fand sich die Verbindung von Elektroakustischer Musik mit traditioneller kubanischer Musik und DJ-Kultur auch im Eröffnungskonzert im architektonisch außergewöhnlichen Gebäude Casa de las Américas wieder.

 

Casa de las Américas, Havanna, Foto: L. Kisters

In diesem geschichtsträchtigen Haus, direkt am Meer gelegen, spielte bereits Mercedes Sosa legendäre Konzerte, nun war es Veranstaltungsort für ein Tributkonzert zum 100. Geburtstag von Juan Blanco, dem Pionier elektroakustischer Musik in Kuba bzw. Südamerika und Gründer des ersten Studios in Havanna. Kompositionen von Juan Blanco aus dem Jahr 1961 wurden dabei mit Video-Kunst aktueller kubanischer Künstler in einen neuen Kontext gesetzt; geprägt von überraschenden Wechseln in der spektralen Dichte und im dynamischen Verlauf entstand eine spannende Verbindung von schroffen Klangwänden mit abstrakten Videopattern. Im Anschluss, unter freiem Himmel im Hof der Casa de las Américas, hörten die zahlreichen Besucher elektroakustische Klänge mit virtuosen Improvisationen von Juliet Fernández und Manuel Jiménez auf traditionellen kubanischen Instrumenten (Timbales und Congas), gefolgt von einem energetischen Ausklang mit verschiedenen DJs.

 

Konzert im Innenhof der Casa de las Américas mit dem Festival-Logo im Hintergrund, Foto: L. Kisters

Mi. 11.3.2020:
Durchweg sehr gut besucht waren auch die Konzerte am zweiten Tag, sie begannen am Nachmittag mit studentischen Werken aus dem ICST Zürich, geprägt von detailreichen, atmosphärischen Kompositionen mit verschiedenen Soundscapes (u.a. Vogelstimmen, Regen, Gewitter) und Zitaten (z.B. fragmentierte Klavierwerke von Satie in Sueño lúcido von Ricardo de Armas). Vor und nach dem Konzert gab es auf der Dachterrasse der Fundación Ludwig Gelegenheit zum Austausch, mit atemberaubendem Ausblick auf das Meer und die Hochhäuser des Stadtteils Vedado. Am Abend folgten Konzerte im Theatersaal des Museo Nacional de Bellas Artes in der Altstadt, zunächst wurden Mehrkanal-Kompositionen aus dem belgischen Studio Metamorphoses d ́Orphée von Annette Vande Gorne präsentiert. Mit den Worten „please close your eyes for the cinema in your head“ wurden die Zuhörer auf die insbesondere in ihrer Räumlichkeit beeindruckenden Kompositionen in quadrophoner Wiedergabe eingestimmt, z.B. Beyond reality der Studioleiterin Vande Gorne. Zum

Abschluss wurde das rhythmisch komplexe Werk Prótesis von Santiago Barbosa (Kolumbien) für Frauenchor und Live-Elektronik mit Texten des kubanischen Autors Ramón Hondal aufgeführt, das Ensemble Vocal Luna überzeugte dabei mit großer sängerischer Präzision. Auch bei unterschiedlichen Positionen im Raum und

 

Ensemble Vocal Luna, Foto: H. Hartmann

gestischen Momenten, die Bezüge zu Textinhalten wie Verlust, Isolation und militärische Ausbildung herstellten, gelang der Wechsel von gesprochenen und gesungenen Passagen mühelos auf höchstem Niveau. Zum Ausklang wurden die Mitwirkenden in die Piano Bar Convergenzia zu DJ/Live-Musik mit kulinarischen Überraschungen und lokalen Erfrischungen eingeladen.

Do. 12.3.: Die Probe am Nachmittag für die Aufführung meiner Mehrkanal-Komposition Der Taumel im Saal des Museo Nacional de Bellas Artes verlief in konzentrierter und entspannter Atmosphäre, die Probenzeit war großzügig geplant.
Das Konzert am Abend wurde eröffnet mit Anamorphosis von Clemens von Reusner, gefolgt von Angel Blanco (Mexiko) an der Vierteltongitarre.

 

Angel Blanco an der Vierteltongitarre, Foto: L. Kisters

Blanco interpretierte ausdrucksstark ein Werk für Gitarre und Zuspielband der kanadischen Komponistin Kristi Allik mit starkem Kubabezug: Havanna Soundscapes II – Street Parade. Nach Der Taumel beeindruckte Liuh-Wen Ting (USA) mit ihrem sensiblen Instrumentalspiel in verschiedenen Werken für Viola und Elektronik, u.a. wurden die Bewegungen der bogenführenden Hand mittels Motioncapture in Klänge umgesetzt. Dieses Konzert wurde auch vom kubanischen Fernsehen mitgeschnitten, vor dem Konzert wurden Interviews mit Interpreten und Komponisten geführt. Mit experimenteller DJ- und Videokunst des Spaniers Yarei Molina wurde das Programm in der Fabrica del Arte Cubano fortgesetzt, einem weitläufigen Veranstaltungsort in einer ehemaligen Fabrikanlage mit zahlreichen Ausstellungen (Videoinstallationen, Gemälden, Fotografien…), Bars und Restaurants.

Fr. 13.3.: Verschiedene Vorträge zum Thema Elektroakustische Musik umrahmten das Festival. In der Fabrica del Arte Cubano stellte Hanna Hartmann am Mittag ihre Kompositionsprozesse vor, großes Interesse fanden dabei ihre Beispiele für Live- Animationen mittels Magnetismus und ihre Vorgehensweise, Klänge „unter die Lupe“ zu nehmen, z.B. Aufnahmen mittels Kontaktmikrofon von in Schwingung versetzten Silbergabeln an Fäden einzusetzen. Es folgte ein Konzert mit vielschichtigen elektroakustischen Werken polnischer Komponisten, kuratiert von Anna Zielinska. Ein deutlicher Fokus wurde hier auf Werke mit Sprache bzw. Sprachbearbeitungen gelegt.
Am Abend erwartete die Zuhörer im Theatersaal des Museo Nacional de Bellas Artes ein facettenreiches Programm zum 25jährigen Jubiläum des Studios in Valencia, welches von Beginn an enge Kontakte zum Studio in Havanna pflegte, präsentiert vom Studioleiter Gregorio Jiménez. Nach einer Komposition von Juan Piñera für Saxophon und Live- Elektronik aus dem Studio in Havanna erklang Tree Blossoms IV (2018) von Christian Banasik aus Deutschland. Banasik arbeitet in diesem audiovisuellen Werk mit Klängen, die er für den Stummfilm Baumblütenzeit in Werder aus dem Jahr 1929 komponiert hatte. Das virtuose Werk Digits für Klavier und Live-Elektronik von Neil Rolnick (USA) beendete das abwechslungsreiche Konzert.

 

Sunlay Almeida Rodríguez (Kuba) am Klavier, Foto: H. Hartmann

DJs mit traditionellen kubanischen Live-Instrumenten ließen den Abend im Club La Cava, einem Kellergewölbe unter dem Gran Teatro Havannas, ausklingen.

Sa.14.3.: Das Konzert im Museo Nacional de Bellas Artes begann mit aktuellen audiovisuellen Kompositionen aus dem Studio des ICST Zürich, Snake oil von Micha Seidenberg (Schweiz) und ImEdge von José Yépez-Pino (Ecuador). Zwei Werke mit Film kubanischer Komponisten setzen sich im Anschluss mit dem Alltag Kubas auseinander: René Rodriguez thematisierte mit Ensayo visual para ejecutantes sonoros, komponiert 2020, in fast dokumentarischer Form die soziale Situation älterer Leute, während Ailem Carvajal in SILHOUETTES Bezüge zur rituellen afro-kubanischen Musik integrierte.
Das äußerst subtile Werk Chiaroscuro von Mikel Kuehn (USA) für Cello und Elektronik bildete den klangsinnlichen Schlusspunkt des Abends.

So.15.3.: Im Abschlusskonzert in der historischen Casa Victor Hugo in der Altstadt präsentierte Hanna Hartman ihre Kompositionen Nailed Shut and Roped und Crush sowie Werke von Erhard Grosskopf und Kaj Duncan David aus dem Studio der Akademie der Künste Berlin in 4-Kanalversionen. Während David in Lecture about myself philosophische Fragenstellungen mittels eines Erzählers aufwarf, stellten Hartmann und Grosskopf die Wahrnehmung klanglicher Phänomene unabhängig von außermusikalischen Kontexten in den Vordergrund. Da wegen der Hitze Fenster und Türen geöffnet waren, mischten sich die Kompositionen eindrucksvoll und unerwartet mit typischen Straßengeräuschen Havannas wie Vogelgezwitscher, Rufen und Autoklängen.

 

Innenhof der Casa Victor Hugo, Havanna, Foto: L. Kisters

Mit hochkarätig interpretierten Werken kubanischer Komponisten für Gitarre, Saxophon, Flöte und Elektronik, u.a. Quasi guitarra von Orlando Jacinto Garcia, fand das Festival seinen vorzeitigen Abschluss.

Denn bedingt durch das Corona-Virus überschatteten leider Absagen von Interpreten, Komponisten und einigen Konzerten an den beiden letzten Tagen das Festival. Nicht nur in diesem Kontext war es äußerst hilfreich, dass sämtliche Informationen, Konzerteinführungen, Vorträge und auch bei Bedarf private Gespräche vor und nach den Konzerten spanisch- englisch übersetzt wurden.

Eine Besonderheit des Festivals stellten die zahlreichen spektakulären Aufführungsorte, verteilt auf die verschiedenen Stadtteile Havannas, dar, von ehemaligen Fabriken bis zu Gebäuden im Kolonialstil in der Altstadt. Für 2021 ist das Festival PRIMAVERA EN LA HABANA wieder geplant, die Ausschreibung für den Call for Works wird wieder über den DEGEM-Verteiler erfolgen.

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